Doch nun muß ich Ihnen mein Geheimnis verraten, das zugleich das Geheimnis des Falles ist, in dem Sie so heldenhaft ermittelt haben. Es ist ein so einfaches Geheimnis, daß es sich in vier Worte fassen läßt:
Ich habe keine Beine.
Ich habe keine Beine. Sie wurden mir beide im April 1912 amputiert, nachdem jener Dreckskerl sie mir bei einem kleinen Zwischenfall an Bord der Titanic, den ich Ihnen gleich beschreiben werde, zerquetscht hatte. Die prachtvollen künstlichen Gliedmaßen, mit denen ich seither durch die Welt geschritten bin, haben diese Behinderung, fürchte ich, nicht ganz verbergen können. Es fiel mir auf, wie Sie meine Schritte beobachteten – nicht gerade ein Hinken, aber doch immer ungeschickt und manchmal, wenn ich zu schnell sein will, so linkisch, daß ich mich verrate. Im Grunde kann ich nicht schnell gehen; und auch darauf werde ich gleich zurückkommen.
Ist Ihnen jemals aufgegangen, welch großartige Möglichkeiten Beinprothesen zur Verkleidung bieten? Wir kennen den Mummenschanz aus Perücke und Bart und Theaterschminke; wir kennen die falschen Nasen und die ausgestopften Bäuche; wir haben die raffiniertesten Sinnestäuschungen erlebt. Aber so erstaunlich das ist, hat man noch nie von der einfachsten Art der Täuschung gehört – jener durch den schieren Größenunterschied. Immer hat es geheißen: »Dies und das kann ein Mann tun, aber eines kann er nicht verändern: seine Größe.« Ich möchte also zu Protokoll geben, daß ich mir meine Größe aussuchen kann, wie es mir gefällt, und daß ich das schon seit einer ganzen Reihe von Jahren getan habe.
Von Natur aus bin ich nicht groß. Oder um es exakter auszudrücken: Wenn ich die Möglichkeit hätte, die Größe abzuschätzen, die ich eigentlich haben sollte, wäre es, glaube ich, nicht allzu groß. Lassen Sie uns sagen, daß ich ohne den Eingriff meines Freundes auf der Titanic etwa einen Meter fünfundsechzig groß wäre.
Durch die Entfernung meines Unterbaus (wie habe ich das ausgedrückt?) bleibt noch ein eigentlicher Körper von knapp neunzig Zentimetern. Wenn Sie mir nicht glauben, zeichnen Sie einmal Ihre eigene Größe an einer Wand an und messen Sie dann den Teil ab, den davon jene geheimnisvollen Gliedmaßen einnehmen, die wir Beine nennen.
Ich ließ mir – zuerst im Zirkus – eine ganze Reihe von Beinprothesen verschiedener Länge machen, und nachdem ich manch schmerzvolle Stunde damit verbracht habe, das Gehen darin zu üben, kann ich mir heute meine Größe nach Belieben aussuchen. Es ist interessant zu sehen, wie leicht das Auge sich täuschen läßt. Stellen Sie sich einmal vor, Ihr schmächtiger Freund stünde als Zweimetermann vor Ihnen: Ihr Hirn würde es nicht glauben, und mit ein wenig Geschick in anderen Bereichen der Verkleidung wäre er nicht mehr zu erkennen.
Ich wechsle gern meine Größe. Ich bin einmal einsfünfundachtzig groß gewesen. In meiner berühmten Rolle als »Ahriman« der Weissager hingegen war ich fast ein Zwerg, und das mit solchem Erfolg, daß der brave Mr. Harold Welkyn mich nicht wiedererkannt hat, als ich als Patrick Gore zu ihm zurückkehrte.
Das Beste wird sein, ich beginne mit der Sache, die sich auf der Titanic zugetragen hat. Die Geschichte, die ich vor den versammelten offenen Mäulern in der Bibliothek vortrug, als ich kürzlich dorthin zurückkehrte, um mein Erbe einzufordern, war die Wahrheit – nur eine einzige Kleinigkeit habe ich leicht verändert und natürlich jenen einen Punkt ausgelassen.
Wir haben die Identitäten getauscht, ganz wie ich es beschrieben habe. Der edle Knabe wollte mich tatsächlich umbringen, wie ich gesagt habe. Allerdings hat er versucht, mich zu erwürgen, denn damals war er der Stärkere. Diese kleine Tragikomödie spielten wir in den Kulissen einer echten Tragödie, und vor welchem Hintergrund, das haben Sie erraten. Der Hintergrund war eine jener großen, weiß lackierten Stahltüren, mit denen auf einem Schiff die Schotten dichtgemacht werden können und die dem eindringenden Wasser etliche Zentner schieres Metall entgegenstemmen. Die Art, wie ihre Scharniere sich bogen und zerplatzten, als das Schiff in die Tiefe ging, war, glaube ich, das Entsetzlichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe; es war wie das Chaos, das über die Welt hereinbrach, wie der Fall der Tore von Gath.
Der Plan meines Freundes war nicht gerade hoch entwickelt. Er wollte mir den Hals zudrücken, bis ich bewußtlos war, mich dann unter Deck einschließen, wo das Wasser eindrang, und sich davonmachen. Ich wehrte mich mit allem, was ich zu fassen bekam, und das war in diesem Falle ein Holzhammer, der neben der Tür hing. Wie oft ich zuschlug, weiß ich nicht mehr, doch dem Sohn der Schlangentänzerin schien es überhaupt nichts auszumachen. Ich konnte einen Sprung auf die andere Seite der Tür machen – was sich jedoch als schlechter Schachzug erweisen sollte; der Sohn der Schlangentänzerin stemmte sich dagegen, und mit dem Rollen des Schiffes gaben die Scharniere nach. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich mich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte – alles von mir bis auf die Beine.
Es war ein Tag für Heldentaten, Doktor – Heldentaten, die keiner je besungen hat und von denen, wenn überhaupt, nur mit stammelnden Worten berichtet wurde. Wer mich gerettet hat, ob es ein Passagier war oder jemand von der Besatzung, das weiß ich nicht. Jedenfalls hob mich jemand auf wie einen nassen Hund und trug mich hinaus zu einem Rettungsboot. Ich war überzeugt, daß der Sohn der Schlangentänzerin mit seinem blutüberströmten Kopf und den wirren Augen zurückgeblieben war und umkommen würde. Daß ich selbst nicht umgekommen bin, verdanke ich wohl dem Salzwasser, aber es war nicht gerade eine Vergnügungsfahrt; und aus der Woche, die darauf folgte, weiß ich nichts mehr.
In der Geschichte, die ich vor einigen Abenden dem Grüppchen von Farnleigh Close erzählte, berichtete ich als nächstes davon, wie Boris Yeldritch, der alte Zirkusdirektor – längst tot –, mich als »Patrick Gore« in Empfang nahm. Ich habe auch zumindest angedeutet, wie mir zumute war. Sie wissen, warum ich auf meine Verfassung nicht näher eingegangen bin. Boris fand ohne Mühen einen Platz für mich im Zirkus, denn schließlich war ich (was sollen wir darum herumreden) ein Krüppel, der – dank meiner Studien seinerzeit zu Hause – einen wunderbaren Wahrsager abgab. Es war eine Zeit der Schmerzen und Demütigungen, besonders da ich auf meinen Händen »gehen« lernen mußte. Ich will dabei nicht länger verweilen, denn Sie sollen nicht denken, ich wollte Ihr Mitleid oder Mitgefühl – schon der Gedanke bringt mich in furchtbare Wut. Mir geht es wie dem Mann im Theaterstück. Eure Achtung will ich erringen, wenn ich es kann. Euren Respekt werde ich erzwingen, und wenn ich euch dafür umbringen muß. Aber euer Mitleid? Wie könnt ihr es wagen!
Aber mir geht auf, daß ich mich wie ein Tragöde wegen Dingen gebärde, die ich im Grunde schon fast vergessen habe. Lassen Sie uns die griesgrämige Stimmung vertreiben und uns amüsieren über das, was wir nicht ändern können. Sie wissen, was aus mir geworden ist: Ich bin Wahrsager gewesen, falscher Spiritualist und Okkultist, und Zauberkünstler dazu. Vor einigen Tagen auf Farnleigh Close war es fast ein wenig unvorsichtig von mir, daß ich soviel davon verraten habe. Aber ich bin als Mann, der alles weiß, schon unter so vielen Namen und in so vielen Verkleidungen aufgetreten, daß ich nicht groß befürchten mußte, jemand werde mich wiedererkennen.
Glauben Sie mir, in meinem Geschäft ist es nur gut, wenn man keine Beine hat. Ich würde es mir nicht anders wünschen. Aber die künstlichen waren mir oft im Wege, und ich fürchte, wirklich geschickt im Umgang mit ihnen bin ich nie geworden. Schon früh habe ich gelernt, mich nur auf den Händen fortzubewegen, und das mit – wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen – unglaublicher Schnelligkeit und Wendigkeit. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu erzählen, wie oft mir das in meinem Geschäft als falsches Medium nützlich war und welch bemerkenswerte Effekte ich für die Besucher meiner Séancen ersonnen habe. Denken Sie einmal eine Weile lang darüber nach, dann werden Sie es sich ausmalen können.