Angella schrie auf, stieß Tally zurück und warf sich auf die Drachenreiterin. Ein Dolch blitzte in ihrer Hand. Ihr Gesicht war verzerrt vor Haß.
»Nicht!« schrie Tally. »Tu es nicht, Angella!«
Aber es war zu spät. Der Laser in der Hand der Sterbenden bewegte sich, aber Angella war schneller. Mit einem Tritt fegte sie die Waffe beiseite, hob den Arm und stieß zu, einmal, zweimal, dreimal, wie in einem schrecklichen Blutrausch gefangen, immer und immer wieder, bis Tally endlich über ihr war und ihren Arm zurückriß.
Angella versuchte auch nach ihr zu stechen. Tally wich dem Dolch aus, packte ihr Handgelenk und verdrehte es, bis sie die Waffe fallen ließ. Dann versetzte sie ihr eine schallende Ohrfeige.
»Verdammte Närrin?« schrie sie. »Was ist in dich gefahren?!« Sie schlug ein zweites Mal zu – diesmal nicht mehr, weil es nötig war, sondern schlicht und einfach, weil sie etwas brauchte, an dem sie ihre Wut auslassen konnte –, zerrte Angella grob von der Brust der Toten herunter und versetzte ihr einen Stoß, der sie abermals zu Boden fallen ließ. »Du verdammte Närrin!« schrie sie, außer sich vor Zorn. »Warum hast du sie umgebracht! Sie hätte uns wertvolle Informationen geben können. Sie –«
Sie sprach nicht weiter, als sie den Ausdruck in Angellas Gesicht sah.
Angella war totenbleich geworden. Der Abdruck von Tallys Hand zeichnete sich rot auf ihrer Wange ab. Ihr Mund stand halb offen, wie zu einem Schrei, und ihre Augen schienen vor Entsetzen schier aus den Höhlen quellen zu wollen. »Ka... ran!« stammelte sie.
Tally drehte sich herum.
Das erste, was sie sah, war Hrhon, und obwohl sie ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde anblickte, begriff sie doch, daß sie den Waga zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich fassungslos sah, erstarrt vor ungläubigem Schrecken und geschüttelt vor Angst.
Dann sah sie Karan.
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Und es war unmöglich.
Sie hatte gesehen, wie der Laserblitz Karan traf. Sie wußte, welche Verheerung diese schreckliche Waffe ausrichten konnte, und sie hatte gesehen, wie sein Körper wie ein Stück trockener Holzkohle ausgeflammt war. Großer Gott, sie hatte es GESEHEN!
Aber er war nicht tot.
Karan hockte, mit verzerrtem Gesicht und stierem Blick zwar, aber unverletzt, auf den Boden, den rechten Arm gegen den Leib gepreßt. Sein Wams war zu Asche verkohlt, aber die Haut darunter war glatt und unversehrt, rosig wie die eines Neugeborenen, ohne die winzigste Wunde, ohne die allergeringste Spur der Höllenglut, die sie vor Tallys Augen versengt hatte.
Und dann, endlich, begriff sie.
Alle Angst fiel von ihr ab. Plötzlich hatte sie keine Furcht mehr, allein, weil sie begriff, daß das Geheimnis, dem sie gegenüberstand, zu groß war, als daß sie irgendwelche menschlichen Gefühle als Maßstab anlegen konnte. Sie... schauderte. Die Tiefe der Erkenntnis, die sie überfiel, ließ irgend etwas in ihr beinahe ehrfürchtig erzittern. Es fiel ihr selbst schwer, zu sprechen.
»Das also war es«, murmelte sie.
Karan nickte. Er stand auf. Sein Arm, der vor Tallys Augen zu schwarzer Schlacke geworden war, hob sich, unversehrt, glatt neugeboren. Nein – neugeschaffen, verbesserte sie sich in Gedanken. Was für eine Närrin war sie doch gewesen, es nicht schon vorher zu merken.
»Was... was bedeutete das?« stammelte Angella.
Ihre Stimme war schrill. Zitterte. Tally hörte den Ton beginnender Hysterie darin. »Was bedeutet das, Tally?« kreischte sie.
»Schweig«, sagte Karan sanft. »Deine Angst ist verständlich, aber unbegründet. Karan ist nicht euer Feind. Er wird euch hier herausbringen, wie er es versprochen hat.« Er stockte einen fast unmerklichen Moment. »Er wird euch einen Weg zeigen, auf dem ihr aus dem Wald herauskommt. Aber zuvor wird er deine Frage beantworten, Tally.« Er seufzte. Als er weitersprach, klang seine Stimme verändert. Flach und tonlos wie die eines Mannes, der in Trance sprach.
»Das dort unten ist der Schlund, Tally«, sagte er. Seine Hand wies nach unten, auf das unsichtbare, schlingende Etwas unter dem Netz. Zum ersten Male glaubte Tally zu begreifen, wie wahr der Name war, den die Menschen der Welt unter der Welt gegeben hatten. »Das Leben.«
»Leben?« Angella ächzte. »Ich hatte einen eher gegenteiligen Eindruck, Karan.«
»Es ist das Leben«, beharrte Karan. »Leben in seiner reinsten, ursprünglichsten Form.« Er wandte sich wieder an Tally. »Karan hat dir einmal die Geschichte den Schlundes erzählt, Tally, den kleinen Teil davon, den er selber kennt, und der weiterzugeben ihm erlaubt ist. Dies alles hier war einmal ein Meer, ein Ozean, der den größten Teil dieser Welt umspannte. Alles Leben begann in ihm, und hier wird noch Leben sein, wenn der Rest dieses Planeten längst zu einer toten Staubkugel geworden ist. Es war immer hier, es ist hier, und es wird immer hier sein. Es ist die große Mutter, Gäa, der Ursprung allen Lebens.«
»Die große Mutter?« Angella lachte bitter. »Eine ziemlich rabiate Mutter, findest du nicht?« Ihre Stimme schwankte immer stärker. Tally begriff, daß sie kurz davor war, schlichtweg den Verstand zu verlieren.
»Du verstehst noch immer nicht«, antwortete Karan.
»Der Schlund ist kein Wesen wie du oder Tally oder selbst der Waga hier. Er denkt nicht. Er fühlt nicht. Er lebt. Das ist alles.«
»Und deshalb tötet er?«
»Der Sinn des Lebens ist das Leben, sonst nichts«, erwiderte Karan beinahe sanft. »Dinge wie gut und böse sind Erfindungen der Menschen. Der Schlund kennt diese Gefühle nicht. Sie hindern nur und nutzen nicht. Der Schlund ist Leben, in absoluter Perfektion. Nichts kann ihn vernichten. Er kennt keine Schmerzen. Keine Skrupel. Kein Gewissen.«
»Dann ist er nicht mehr als ein Plasmaklumpen«, sagte Angella. Sie wimmerte leise. Tally blickte rasch zu ihr zurück und sah, daß ihr Gesicht noch immer verzerrt war. Ihr Blick flackerte. Sie sprach, ohne wirklich zu wissen, was sie sagte. Ihre Hände vollführten kleine, eigenständige Bewegungen. »Nicht mehr als ein Ding, das frißt und sich fortpflanzt.«
»Und damit den Sinn des Lebens erfüllt«, beharrte Karan. Er lächelte milde. »Du verstehst nicht, Angella – und wie könntest du auch? Niemand, der den Schlund nicht so kennengelernt hat wie Karan, kann begreifen, was er ist.«
»Du weißt es«, sagte Tally. Plötzlich war ihr kalt. Entsetzlich kalt. Sie trat dicht an Karan heran und versuchte zu lächeln, aber der bloße Gedanke an das, dem sie wirklich gegenüberstand, ließ es zu einer Grimasse werden. »Deshalb also hattest du solche Angst davor, hierher zurückzukehren«, fuhr sie fort.
Karan nickte. »Ja. Aber diese Angst war falsch, das weiß Karan jetzt. Er hätte schon viel früher zurückkehren sollen. Er dankt dir, daß du ihn gezwungen hast, es zu tun.«
»Was zum Teufel redet ihr da?« fragte Angella. Sie sah abwechselnd Tally und Karan an. »Was soll dieser Unsinn bedeuten?«
»Es ist kein Unsinn.« Tally antwortete, ohne den Blick von Karans Gesicht zu nehmen. In den Augen des alten Mannes stand ein Ausdruck, der sie schaudern ließ. Es war Schmerz, Furcht, sicher, aber auch... ja – aber auch Glück. Glück und Erleichterung. »Du hast gefragt, wie es kommt, daß wir von keinem Bewohner dieses Waldes angegriffen worden sind, Angella«, fuhr sie fort, aber noch immer, ohne sie anzusehen. »Du hast vermutet, daß es Karan ist, der uns schützt, nicht wahr? Aber wir wußten nicht, wie er es getan hat.«
»Und du weißt es jetzt?« Angella klang unsicher. Tally nickte. »Ja. Sie fürchten ihn, weil sie den Schlund fürchten, nicht wahr, Karan? Und weil er ein Teil davon ist.«
Ganz langsam zog sie ihr Messer aus dem Gürtel, setzte die Spitze auf Karans Unterarm und sah ihn fragend an. Karan nickte.