»Was tust du?« rief Angella erschrocken.
Aber Tally antwortete nicht. Statt dessen führte sie die Messerklinge in einem raschen, aufwärts gerichteten Bogen über Karans Arm. Seine Haut klaffte auseinander. Karan zuckte nicht einmal mit den Wimpern.
Die Wunde blutete nicht.
Und darunter kam keinlebendes Fleisch zum Vorschein, sondern eine weißliche, glänzende Masse aus Millionen und Abermillionen mikroskopisch feiner, ineinandergesponnener Fäden, menschliche Knochen und Venen und Muskeln nachahmend.
Angella keuchte. Ihre Augen weiten sich entsetzt.
»Was...«, stammelte sie.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Karan milde.
»Karan ist nicht euer Feind.«
»Und du?« fragte Tally.
»Ich bin ein Teil von ihm«, erwiderte Karan. »So wie Karan ein Teil von mir ist. Er wird zurückkehren, jetzt, wo er den Ruf der Urmutter vernommen hat, aber noch bleibt ihm ein wenig Zeit. Und er wird euch hier herausbringen, zum Dank, daß ihr ihm geholfen habt, dorthin zurückzukehren, wo er hingehört.«
»Du... du willst doch nicht etwa diesem Ungeheuer trauen?« keuchte Angella. »Hast du vergessen, was es mit den Hornköpfen gemacht hat? Hast du... hast du Weller schon vergessen?«
»Auch Weller ist Teil des Schlundes geworden«, antwortete Karan an Tallys Stelle. »Dein Mitgefühl ist verständlich, Angella, doch unbegründet. Er ist glücklich, dort, wo er jetzt ist.« Er zögerte. Dann: »Auch ihr solltet Karan folgen. Ihr wäret aller Schmerzen und Sorgen ledig.« Er lächelte, schüttelte den Kopf und beantwortete seine Frage selbst. »Aber ihr werdet es nicht tun. Auch Karan hätte es nicht getan, bevor ihr ihm die Augen geöffnet habt. Der Teil von euch, der Mensch ist, ist noch zu stark in euch.«
»Aber Weller hat... hat mich gerufen!« sagte Tally verstört. »Er hat um Hilfe geschrien, Karan. Er leidet!« Karan lächelte. Die Wunde auf seinem Arm begann sich zu schließen. »Nur ein Teil von ihm. Schmerz und Leid sind Bestandteile des menschlichen Lebens, Tally. Sie werden vergehen, wie sein Körper verging. Er wird glücklich sein.«
Er log. Tally hatte Wellers Schreie gehört, das entsetzliche Flehen und Rufen in der Nacht zuvor. Sie hatte die Furcht in seinen Augen gesehen, das namenlose Entsetzen im Blick jenes Dinges, in das er sich verwandelt hatte. Karan log, wenigstens in diesem Punkt und vielleicht nicht einmal bewußt. Aber sie sprach nichts davon aus, sondern starrte ihn nur weiter an.
Etwas geschah mit ihm, erkannte Tally schaudernd. Karans Gesicht begann sich zu verändern. Die Falten und Linien, die die Jahrzehnte hineingegraben hatten, glätteten sich zusehends; seine Haut wurde heller. Er wurde nicht etwa jünger, aber irgend etwas schien seine Persönlichkeit zu verwischen. Karan verwandelte sich nicht in ein Monster, wie Weller zuvor; er blieb Mensch, wenigstens äußerlich. Aber er war nur noch Mensch, eine bloße Erscheinungsform, ohne Persönlichkeit, ohne Individualität, eine willkürliche Form, die das Leben gewählt hatte. Plötzlich glaubte Tally zu spüren, welch ungeheure Anstrengung es ihn gekostet haben mußte, diese Erscheinung all die Zeit hindurch aufrecht zu erhalten.
»Wohin bringst du uns?« fragte sie. Ihre Stimme brach fast.
Abermals deutete Karan nach Norden. »Hinaus aus dem Wald. Dorthin, wo dein Ziel ist, Tally.«
»Und die Drachen?«
»Sie werden euch nicht folgen«, antwortete Karan.
»Nicht auf dem Weg, auf dem Karan euch führen wird.« Seine Hand deutete nach unten. Er lächelte rasch, als er Tallys und Angellas Erschrecken bemerkte. »Keine Sorge«, sagte er. »Karan wird euch schützen, so, wie er euch vor den Gefahren des Waldes beschützte.«
»Vorhin konntest du das noch nicht«, sagte Angella mißtrauisch.
»Es war der Mensch Karan, der euch nicht schützen konnte«, antwortete Karan. »Seine Furcht war zu groß. Sein Drang nach dem, was er für Leben hielt, machte ihn blind. Er fürchtete, und das machte ihn schwach. Jetzt fürchtet sich Karan nicht mehr. Aber er ist auch noch genug Mensch, euch zu beschützen. Wenn auch nicht mehr für lange Zeit.«
»Und... für wie lange?«
»Lange genug«, antwortete Karan. Sein Gesicht war verschwunden; eine ebene Fläche, aus der heraus zwei blinde Augen Tally und Angella anstarrten. »Kommt.«
Es war die Tatsache, daß die Frau aufgehört hatte zu reden, die das Mädchen weckte. Es war eingeschlafen, nicht zum erstenmal in dieser Nacht, und nicht zum letztenmal – aber das wurde ihm eigentlich erst jetzt (und mit Schrecken gemischter Verwirrung) klar – hatte die Frau weitergesprochen, war in ihrer Erzählung von Tally und ihren Abenteuern fortgefahren, und sie hatte die Worte verstanden, obwohl sie schlief. Vielleicht besser.
Es war ein sehr sonderbares Gefühl, dachte das Mädchen. Als erinnere es sich an einen Traum, nur daß es ein Traum von ungemeiner Klarheit war. Die Worte der dunkelhaarigen Frau waren von einer Eindringlichkeit, die es dem Kind immer schwerer werden ließ, sie als bloße Geschichte abzutun, obwohl gerade der letzte Teil so phantastisch war, daß er nun wirklich nichts anderes mehr sein konnte.
Müde setzte es sich auf, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und sah erst die Frau an, dann blickte es in die Richtung, in der die Stadt lag. Der Wald verbarg sie vor ihren Blicken, aber der Himmel war voller Rauch. Die Stadt schwelte noch immer.
»Ist die Geschichte jetzt vorbei?« fragte es.
»Möchtest du, daß sie vorbei ist?« erwiderte die Frau. Eigentlich wollte das Mädchen das nicht. Es wollte nach Hause – nicht, daß es nicht gewußt hätte, daß sein Zuhause nur noch ein Haufen rauchender Trümmer und ausgeglühter Steine war, aber das war ihm in diesem Moment gleich. Es war müde und verschreckt und hatte Hunger und Durst und wollte einfach nach Hause – aber gleichzeitig war es auch begierig darauf, das Ende von Tallys Abenteuern zu erfahren. Es wünsche sich, die Geschichte würde nicht mehr lange dauern. Als es aufsah, um genau dies der Frau zu sagen, sah es, daß die Fremde wieder in den Himmel blickte, und diesmal hatte sie ihre Züge nicht ganz so perfekt unter Kontrolle wie bisher: das Mädchen erkannte Ungeduld darauf, aber auch eine ganz sachte Spur von Angst.
»Erzähl weiter«, bat es schließlich. »Aber ich...« Es stockte. Die Frau sah es an, lächelte. »Ja?«
»Ich habe Hunger«, sagte das Mädchen.
»Ich weiß.« Die Fremde seufzte. »Aber ich habe nichts. Soll ich ein paar Beeren für dich sammeln?«
Das Mädchen schüttelte rasch den Kopf. Die Beeren hier im Wald waren größtenteils giftig, das wußte es von seinen Eltern.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, versprach die Frau.
»Bald bekommst du zu essen, Aber die Zeit reicht noch, dir die Geschichte von Tally und den anderen zu Ende zu erzählen. Und es ist sehr wichtig, daß du zuhörst – verstehst du?« Das Kind verstand nicht, aber es nickte trotzdem.
»Hat Karan sein Wort gehalten?« fragte es.
»Natürlich, Dummchen«, sagte die Frau lächelnd. »Sonst könnte ich kaum weitererzählen, nicht wahr?« Sie lachte leise, als sie sah, wie das Mädchen betroffen den Blick senkte, streckte die Hand aus und strich ihr über das Haar. »Er brachte Tally und Hrhon und auch Angella aus dem Wald heraus. Der Weg war sehr weit – sie brauchten mehr als vier Tage, ihn zurückzulegen – und so entsetzlich, daß ich dir diesen Teil der Geschichte nicht erzählen kann, denn du würdest mir nicht glauben. Aber schließlich erreichten sie den Rand des Waldes, und vor ihnen lag das, wonach Tally so unendlich lange gesucht hatte...
6. Kapitel
Der Drachenfels
1
Der Drachenfels. Vor ihnen lag, wonach sie so lange gesucht hatte, fünfzehn – nein, mittlerweile beinahe schon siebzehn endlose Jahre ihres Leben. Der Drachenfels ...