»Du hast recht«, antwortete Angella. Ihre Stimme klang sehr ernst. »Ich kann wirklich nicht anders. Es ist nicht meine Art, die im Stich zu lassen, die mir geholfen haben.«
Tally fuhr zusammen wie unter einem Hieb. Angellas Worte taten weh, sehr weh. Und Angella schien zu spüren, wie sehr sie sie getroffen hatte, denn Tally hörte, wie sie sich in der Dunkelheit bewegte und ein Stück auf sie zukroch. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme sehr viel näher.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Das wollte ich nicht.«
»Ich auch nicht.« Tally lächelte, obwohl sie wußte, daß Angella es nicht sehen konnte.
»Was?«
»Das vorhin. Du hast vollkommen recht – Hrhon ist am Ende. Ich muß ihn ein wenig schonen.«
Angella lachte leise. »Wozu? Bildest du dir wirklich ein, einer von uns käme lebend hier heraus? Das schafft niemand.«
»Karan hat es geschafft«, erinnerte Tally.
»Karan!« Angella schnaubte abfällig. »Karan war ein... ein Ding, kein Mensch mehr. Und er hatte seinen verdammten Gleiter.« Tally hörte, wie sie heftig den Kopf schüttelte, dann hob sie den Arm und deutete in die Richtung, in der der Drachenfels hinter der Nacht aufragte. »Du willst dort hinauf? Das schafft niemand!«
»Warum bleibst du dann bei mir?« fragte Tally matt. Sie hatte keine Lust, zu streiten, schon gar nicht mit Angella.
»Eine gute Frage«, erwiderte Angella böse. »Vielleicht, weil ich sehen will, wie du endlich krepierst, Schätzchen.«
»Das hättest du einfacher haben können«, sagte Tally böse. Sie drehte sich mit einem Ruck herum, legte den Kopf gegen den noch warmen Fels und schloß die Augen. »Laß micht jetzt in Ruhe«, fuhr sie fort. »Ich will schlafen. Du kannst mich drei Stunden vor Sonnenaufgang wecken. Oder besser zwei.«
Angella schnaubte eine Antwort, die Tally nicht verstand, und kroch wieder zu ihrem Platz zurück.
Aber Tally schlief nicht. Sie war müde wie niemals zuvor in ihrem Leben, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Es war zu viel, was ihr durch den Kopf ging, und es waren Dinge, die sie um so mehr erschreckten, weil sie keine Erklärung dafür hatte. Angella und sie hatten nicht darüber gesprochen – weil sie während der letzten vier Tage kaum dazu gekommen waren, mehr als ein Dutzend Wort miteinander zu wechseln – aber sie beide wußten, daß Karan ihnen nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte nicht gelogen, denn das hatte er nicht nötig gehabt, aber er hatte ihnen lange nicht alles gesagt. Sie hatte Wellers Schreie gehört und das namenlose Entsetzten darin, und irgend etwas in ihr hatte gespürt, wie sehr er litt. Karan hatte nicht mehr getan, als einen winzigen Zipfel des Geheimnisses vor ihren Augen zu lüften und die Decke wieder fallen zu lassen, lange bevor sie wirklich einen Blick darunter werfen konnten. Und trotzdem hatte das winzige bißchen, das sie erblickte, Tally bis auf den Grund ihrer Seele erschauern lassen. Und das Ungeheuer war noch da. Tally hatte keinen Beweis dafür, aber den brauchte sie auch nicht. Das Monster war erwacht, und es war da, belauerte sie, starrte sie mit unsichtbaren Augen aus der Dunkelheit heraus an, wartete... worauf?
2
Sie mußte wohl doch eingeschlafen sein, denn das nächste, was sie wahrnahm, war Hrhons Hand, die unsanft an ihrer Schulter rüttelte. Erschrocken fuhr sie hoch und senkte die Hand zur Waffe.
»Nissst!« zischelte Hrhon. »Isss bin esss!«
»Was ist los?« murmelte Tally schlaftrunken. »Du solltest das nicht tun. Ich könnte dich erschießen, weißt du?«
»Wasser«, antwortete Hrhon. »Isss habe Wassser gefunden!«
Tally sprang so schnell auf die Füße, daß ihr schwindelig wurde und sie sich an Hrhons Schulter festhalten mußte.
»Wasser? Wo?«
Hrhon machte eine vage Geste in die Dunkelheit hinein.
»Nissst sssehr weit. Kohmmt!«
Sie weckten Angella und eilten los. Wie Hrhon gesagt hatte, war es wirklich nicht sehr weit – drei, vielleicht vier Dutzend Schritte, für die sie allerdings eine geraume Zeit brauchten, denn selbst Hrhon tastete sich wie ein Blinder mit weit ausgestreckten Armen durch die pechschwarze Nacht. Dann umrundeten sie einen gewaltigen kugelförmigen Felsen, und vor ihnen lag ein flacher See, wie ein matt gewordener Spiegel im Sternenlich glänzend. Angella schrie erleichert auf, stieß Tally einfach beiseite und rannte los. Mit einem zweiten, erleichterten Schrei fiel sie auf die Knie, beugte das Gesicht zum Wasser herab und begann mit großen, gierigen Schlucken zu trinken. Eine Sekunde später fuhr sie hoch, spie das Wasser würgend wieder aus und prallte zurück, als wäre sie von einem giftigen Insekt gestochen worden.
»Was ist los?« rief Tally erschrocken. »Was hast du?« Angella drehte sich herum. Ihr Gesicht war vor Ekel verzerrt. »Das Wasser...«, murmelte sie. »Es ist...« Tally hörte gar nicht mehr hin, sondern kniete am Rande des Sees nieder, schöpfte eine Handvoll Wasser und roch daran, ehe sie vorsichtig und nur mit der Zungenspitze kostete.
»Es schmeckt... salzig!«
»Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts«, maulte Angella. »In der Brühe kann man höchstens Fleisch einpökeln. Wenn du es trinkst, dann wirst du sterben!« Tally blickte mit einer Mischung aus Zorn und Enttäschung auf den See hinab. Sie brauchten so dringend Wasser. Und der Anblick der glänzenden flachen Ebene ließ ihren Durst zu schierer Raserei aufkommen.
»Whir khönnten esss abkhochen«, schlug Hrhon vor.
»Oh, ja«, sagte Angella wütend. »Eine wirklich gute Idee. Wir nehmen einfach ein paar Felsen und stecken sie in Brand, und schon haben wir das schönste Feuer, nicht wahr?« Sie schnaubte, stieß wütend mit dem Fuß in den Boden, daß der Sand hochspritzte und ins Wasser klatschte, und fuhr herum. Eine Sekunde später verengten sich ihre Augen. Ihre Hand senkte sich auf die Waffe herab, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.
»Was hast du«, fragte Tally.
Angella zögerte zu antworten. Schließlich schüttelte sie unwillig den Kopf. »Nichts«, sagte sie. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Ich muß mich getäuscht haben.« Sie seufzte. »Laßt uns zurückgehen. Wenn wir schon kein Wasser finden, sollten wir wenigstens schlafen.«
»Esss wäre bessser, wheitersssugehen«, sagte Hrhon.
»Ihr habt ssswei Ssstunden gessschlafen.«
»Oh, phantstisch«, antwortete Angella wütend. »Deshalb fühle ich mich wie neugeboren.«
Tally blieb ernst. »Hrhon hat vollkommen recht«, sagte sie. »Du hast keine große Wüstenerfahrung, wie?«
»Warum?« fragte Angella feindselig.
»Weil du dann wüßtest, daß es besser ist, tagsüber zu schlafen und nachts zu gehen.« Sie deutete nach Norden. Ihre Augen hatten sich weit genug an die Dunkelheit gewöhnt, sie den Drachenfels wie eine Säule aus erstarrter Dunkelheit in der Nacht erkennen zu lassen.
»Es sind drei Tagesmärsche bis dorthin; mindestens. Und es wird sehr heiß hier, tagsüber.«
Angella schwieg einen Moment. »Ohne Wasser halten wir das sowieso nicht durch«, murmelte sie.
Tally seufzte. »Ich frage mich, wie du es geschafft hast, dir halb Schelfheim unter den Nagel zu reißen, wenn du so leicht aufgibst.«
»Leicht?« Angella ächzte. »Du machst Witze, wie? Wir...«
»Ssstill!« zischte Hrhon.
Angella verstummte auf der Stelle und sah den Waga erschrocken an. »Was ist?«
»Jemand issst in der Nhähe«, flüsterte Hrhon. »Drachen!«
»Drachen?« Angella zog nun doch ihre Waffe und sah sich wild um. »Wo? Ich höre nichts.«
»Hrhon kann sie spüren«, widersprach Tally. Auch sie zog ihren Laser und schaltet ihn ein, achtete aber sorgsam darauf, das rote Licht in seinem Griff mit der Hand abzudecken. Sie wußte, wie weit auch ein kleines Licht in der Dunkelheit zu sehen war.
»Aber das ist völlig ausgeschlossen!« widersprach Angella. »Woher sollen sie wissen, wo wir sind?«
»Vielleisst hahben ssie auf unsss ghewartet?« schlug Hrhon vor.
Tally nickte zustimmend. »Hast du vergessen, wie leicht sie uns im Wald gefunden haben? Ich traue dieser Jandhi alles zu.«