Tally ließ sich einfach zur Seite fallen. Blitzschnell rollte sie herum, raffte den Laser auf und war im Bruchteil einer Sekunde wieder auf den Knien.
Vor ihr war nichts.
Die Nacht war so leer wie eh und je, und auf dem Tümpel spiegelte sich nichts weiter als das blasse Licht der Sterne. Aber sie war doch nicht verrückt!! Oder?
Tally zog auch diese Möglichkeit einen Moment lang ernsthaft in Betracht – sie war oft genug in der Wüste gewesen, um zu wissen, wie schnell Hitze und Durst die Sinne verwirren konnten, auch und vielleicht gerade die jener, die sich sicher wähnten. Aber was sie gesehen hatte, war keine Halluzination gewesen, sondern Tatsache: für einen unendlich kurzen Moment hatte sie ganz deutlich eine menschliche Gestalt gesehen. Sie hatte sogar das Gesicht erkannt, und Ein blauweißer Blitz von ungeheurer Leuchtkraft stieß hinter ihr in den Himmel hinauf. Für den Bruchteil eines Herzschlages wurde die Welt vor ihren Augen zu einem grellen Negativ in abgrundtiefem Schwarz und unerträglich gleißendem Licht, und plötzlich hörte sie einen Schrei von solchem Entsetzen, daß sich etwas in ihr schmerzhaft zusammenzuziehen schien. Dann erlosch das Licht, und eine halbe Sekunde später auch der Schrei. Aber die Stille, die ihm folgte, war beinahe noch schlimmer...
Tally rannte los. Sie gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sein; das Versteckspiel war ziemlich sinnlos geworden. Trotzdem kam sie kaum von der Stelle. Sie war beinahe blind. Nach den grellweißen Lichtblitzen erschien die Nacht doppelt dunkel; mehr als einmal stolperte sie und fiel. Selbst als sie – nach nur wenigen Augenblicken – wieder das Licht der Zauberlampe vor sich sah, erkannte sie im ersten Moment nicht mehr als Schatten, die sich einzig von den Felsen unterschieden, weil sich zwei davon bewegten.
Trotzdem erkannte sie genug. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren nicht wahr geworden – sie waren übertroffen. Das kleine, aus Felsen und Sand gebildete Halbrund hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Die beiden Frauen waren tot. Die Hände der Jüngeren umklammerten noch immer den Schaft der gewaltigen Laserwaffe, deren Blitz die Nacht zerrissen hatte, aber Tally erkannte sie nur noch an diesen Händen: Schultern und Kopf waren verschwunden, nicht zermalmt oder verbrannt, sondern einfach nicht mehr da. Die Wunde blutete nicht einmal stark.
Ihre ältere Begleiterin lag nur wenige Schritte neben ihr auf dem Bauch, die Hände in den weichen Sand gegraben, als hätte sie noch im Tode versucht, sich irgendwo zu verstecken, mit so unnatürlich verrenkten Gliedern, daß sie einfach tot sein mußte. Angella kniete über ihr, den Dolch in der linken Hand. Mit der anderen durchsuchte sie die Taschen der Toten.
Rote Schleier von Wut vernebelten Tallys Blick. Sie war mit einem einzigen Schritt bei ihr, krallte die Hand in ihr Haar und riß sie so grob in die Höhe, daß Angella vor Schmerz aufschrie und ganz instinktiv das Messer hob. Tally schlug es ihr aus den Fingern, gab ihr einen Stoß vor die Brust und versetzte ihr mit der anderen Hand eine schallende Ohrfeige; so fest, daß ihre eigene Hand brannte. Aber ihre Wut legte sich nicht; ganz im Gegenteil. Mit einem Male hatte sie zu nichts mehr Lust, als Angellas Hals zwischen die Hände zu nehmen und einfach zuzudrücken.
»Verdammte Närrin!« schrie sie mit überschnappender Stimme. »Bist du einfach nur dumm, oder ist dein bißchen Gehirn schon so krank, daß du nicht mehr weißt, was du tust?« Angella wollte sich schon hochstemmen, aber Tally sprang auf sie zu, versetzte ihr eine zweite Ohrfeige und gab ihr einen Stoß, der sie vollends zu Boden schleuderte. »Ich hatte befohlen –«
»Sssie war esss nissst«, unterbrach sie Hrhon.
Tally erstarrt für einen Moment. Ihre Hand, schon zu einem dritten Schlag erhoben, verharrte reglos in der Luft, als sie sich zu dem Waga umwandte. »Was... hast du gesagt?«
»Daß ich es nicht war!« fauchte Angella. Sie hatte sich wieder gefangen und starrte Tally aus Augen an, in denen die schiere Mordlust blitzte. Die linke Hand hatte sie auf ihre schmerzende Wange gepreßt.
»Was... was soll das heißen?« stammelte Tally. »Du ...«
»Ich habe diese beiden nicht umgebracht«, unterbrach sie Angella zornig. »Ich wollte es, verdammt noch mal, ja, und ich hätte es getan, wenn diese dämliche Riesenschildkröte mich nicht daran gehindert hätte, aber ich habe sie nicht angerührt. Hrhon und ich waren mindestens fünfzig Meter entfernt, als wir den Schrei hörten.« Sie stemmte sich hoch, trat einen Schritt auf Tally zu und legte den Kopf schräg. »Was ist mit dir passiert? Hast du Wasser gefunden?«
Tally ignorierte ihre Frage. Verwirrt wandte sie sich an den Waga. »Ist das... wahr?«
Hrhon versuchte ein Nicken nachzuahmen. »Esss stimmt«, sagte er. »Isss habhe sssie eingheholt, ehe sssie herkham. Dhann habhen wir den Sssrei ghehört.«
»Aber wenn du es nicht warst, wer...« Tally brach verwirrt ab, blickte Angella noch einen Moment lang mißtrauisch an, dann drehte sie sich herum und kniete neben der Toten nieder, deren Taschen Angella gerade durchsucht hatte. Mit einem entschlossenen Ruck drehte sie sie herum.
Eine Sekunde später wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan.
»Oh«, murmelte sie. Ihre Hände begannen zu zittern. Ein bitterer, schmerzender Klumpen war plötzlich in ihrem Hals. Sie stand auf, schloß für einen Moment die Augen und versuchte, die immer schlimmer werdende Übelkeit zurückzudrängen, die aus ihrem Magen hochstieg. Mit einem Male hatte sie das Gefühl, Blut zu schmecken.
»Großer Gott!« flüsterte Angella. »Was ist hier geschehen?! «
»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Tally. »Aber ich glaube dir, daß du es nicht warst.«
»Oh, vielen Dank«, fauchte Angella. Auch sie war blaß geworden, hatte sich aber deutlich besser in der Gewalt als Tally. »Ich nehme deine Entschuldigung an. Und wenn dir wieder einmal danach ist, jemanden zu ohrfeigen, komm einfach zu mir.«
»Aber wenn... wenn du es nicht warst – wer dann?« fragte Tally verstört. »Habt ihr irgend etwas gesehen – oder gehört?«
Angella schüttelte ärgerlich den Kopf, bückte sich nach ihrem Dolch und schob ihn mit einem unnötig harten Ruck in den Gürtel. »Vielleicht ein Tier«, vermutete sie.
»Karan hat uns vor Raubtieren gewarnt, oder?«
»Ein Tier?« Tally zwang sich, noch einmal auf die Tote herabzusehen. Beinahe sofort wurde ihr wieder übel. »Ich kann mir kein Tier vorstellen, das so etwas anrichten könnte.«
»Ich schon«, erwiderte Angella. »Ich kenne sogar ein paar.«
»Aber ein Ungeheuer von dieser Größe müßte Spuren hinterlassen!« Tally deutete auf den Boden. Der Sand war von ihren und den Schritten der beiden Drachenreiterinnen aufgewühlt – aber es waren nur die Spuren menschlicher Füße, die sie sah. Und plötzlich war die Angst da. Von einer Sekunde auf die andere bildete sich Tally ein, angestarrt zu werden, belauert von unsichtbaren, gierigen Augen. Und waren da nicht Schritte in der Stille? Sie verscheuchte den Gedanken.
»Vielleicht ist es geflogen«, murmelte Angella. Aber auch sie wirkte plötzlich verunsichert.
»Das hätten wir gesehen.« Tally schüttelte entschieden den Kopf. Dann fiel ihr etwas auf. »Die Hornköpfe!« sagte sie.
Angella blickte verstört zu den beiden gigantischen Fluginsekten hinüber. Sie hatten sich nicht gerührt, sonder standen einfach reglos da, aneinandergebunden und mit teilnahmelos glitzernden Facettenaugen. »Was soll damit sein?«
»Sssie lheben«, sagte Hrhon.
»Genau!« Tally nickte heftig. »Wenn das hier ein Raubtier war, warum hat es sie dann nicht auch getötet?« Angella sah sie und Waga einen Moment lang betroffen an, dann machte sie eine ärgerliche Handbewegung.
»Ach verdammt, woher soll ich das wissen?« fauchte sie.
»Und es interessiert mich auch nicht, zum Teufel. Wir sollten machen, daß wir hier wegkommen, bevor das, was diese beiden getötet hat zurückkommt, um sich noch einen Nachschlag zu holen.«