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Hraban sah müde aus, und seine Bewegungen hatten viel von ihrer Ruhe und Kraft verloren und waren jetzt fast fahrig. Seine Kleider waren voller Schmutz und schwarzem Ruß, und Talianna bemerkte einen schwarzen Kratzer auf seiner rechten Wange, der gerade erst zu bluten aufgehört hatte, denn die Kruste darauf war noch sehr hell. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen vor Talianna nieder, legte die Hände auf die Knie und gab seinem reptilischen Begleiter mit einer Kopfbewegung zu verstehen, es ihm gleichzutun. Hrhon hockte sich umständlich zu Boden, zog die Beine unter den Leib und sah nun wirklich aus wie eine Schildkröte, die vor hundert Jahren vergessen hatte, mit dem Wachsen aufzuhören. Der Blick seiner dunklen Augen huschte unstet von Talianna zu Gedelfi und wieder zurück.

»Wer ist gekommen?« fragte Gedelfi plötzlich. Er sah auf, blickte so genau in Hrabans Richtung, als könne er ihn sehen, wandte plötzlich den Kopf und schnüffelte hör- und sichtbar. Natürlich, dachte Talianna. Er mußte den Waga riechen. Selbst ihr war sein scharfer Reptiliengeruch nicht entgangen, als sie ihm das erste Mal begegnet war.

»Hraban«, antwortete Hraban an Taliannas Stelle.

»Und wer noch?« Gedelfi schnüffelte erneut. »Etwas ist bei dir. Ein nicht-Mensch.«

Hraban nickte. »Hrhon«, sagte er. »Mein Leibwächter. Er ist ein Waga. Die Hälfte meiner Krieger sind nicht- Menschen. Hat Talianna dir nichts davon erzählt?« Bei diesen Worten sah er Talianna so fragend und gleichzeitig vorwurfsvoll an, daß sie unwillkürlich die Arme hob und antwortete: »Er hat nicht gefragt.«

»So?« Hrabans Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ist das wahr, alter Mann? Ich dachte immer, Blinde seien besonders begierig, alles zu erfahren, was geschieht.«

»Ich brauche nichts über euch zu erfahren«, erwiderte Gedelfi feindselig. »Ich weiß, wer ihr seid.«

Hraban seufzte, setzte zu einer scharfen Antwort an und beließ es dann bei einem neuerlichen Seufzen und einem unterstützenden Kopfschütteln. »Du glaubst also zu wissen, wer wir sind«, sagte er nur.

Gedelfi schürzte die Lippen. »Ich glaube es nicht«, antwortete er betont. »Ich weiß es.«

»Und woher?« fragte Hraban.

»Ich bin ein alter Mann«, erwiderte Gedelfi. »Ein sehr alter Mann, Hraban. Ich weiß Dinge, die heute nur noch wenige wissen. Ich weiß, welcher Macht ihr dient. Ich wußte, daß ihr kommen würdet, wie die Aasgeier, um das zu vollenden, was die...« Er stockte einen Moment. »... was die anderen nicht vollbracht haben«, endete er schließlich. Talianna hatte das sehr sichere Gefühl, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen.

Hraban maß den Blinden mit einem sehr langen, forschenden Blick. »Du wußtest es also«, wiederholte er schließlich. Dann lachte er, setzte sich ein wenig auf und machte eine weit ausholende Armbewegung. »Das hier sieht mir aber nicht danach aus, als hätte irgendwer hier gewußt, was geschehen würde.«

Gedelfi schnaubte. »Sie waren Narren«, sagte er überzeugt. »Ich habe sie gewarnt, und andere auch. Aber sie haben nicht auf uns gehört, und irgendwann habe ich nichts mehr gesagt.«

»Und gehofft, du könntest dich täuschen«, fügte Hraban hinzu.

Diesmal antwortete Gedelfi nicht sofort. »Nein«, sagte er endlich. »Eher, es könne noch lange genug gutgehen, daß ich es nicht mehr erleben muß. Aber nun ist ja ohnehin alles vorbei. Ich werde sterben, noch ehe...« Er stockte einen Moment, legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen, und Talianna wußte, daß er auf diese Weise versuchte, die Wärme der Sonne zu spüren und so ihre Stellung am Himmel zu erraten – etwas, das einem Sehenden schier unmöglich gewesen wäre, womit er Talianna und die anderen Kinder aber immer wieder verblüfft hatte. »Noch ehe die Sonne untergeht«, sagte er dann.

»Was redest du für einen Unsinn?« fragte Talianna erschrocken. »Du wirst nicht sterben, Gedelfi. Du bist unverletzt, und ich gebe auf dich acht.« Instinktiv streckte sie die Hand nach der des alten Mannes aus, aber Gedelfi entzog ihr seine Finger. Talianna blickte verstört von ihm zu Hraban und wieder zurück.

»Laß nur, Kind«, sagte er, kalt, ohne eine Spur von Trost oder Verständnis, sondern fast agressiv. »Du meinst es gut, aber ich weiß, was geschehen wird. Wir alle werden sterben.«

»Was redest du nur!« fuhr Talianna auf. »Wir sind in Sicherheit, Gedelfi. Hrabans Männer werden sich um uns kümmern, und... und ich bin ja auch bei dir!« Hilfesuchend wandte sie sich an den Söldnerführer.

»Sagt doch auch etwas, Hraban«, sagte sie.

Hraban blickte sie an, aber etwas war in seinen Augen, was Taliannas Schrecken eher noch schürte. »Das ist etwas, worüber ich mit dir reden muß«, sagte er. Er deutete auf Gedelfi. »Du magst diesen alten Mann, nicht wahr? Und er braucht dich.«

»Ja«, antwortete Talianna zornig. Hrabans Art, über Gedelfi zu reden, machte sie zornig. Er sprach von dem Blinden wie von jemandem, der nicht hören konnte, daß man über ihn sprach. Sein Verhalten war zumindest unhöflich, wenn nicht verletzend. »Warum fragt Ihr?«

»Weil wir einen alten und noch dazu blinden Mann wie ihn nicht mitnehmen können«, erwiderte Hraban.

»Er wäre eine zu große Last für uns. Ganz davon abgesehen, daß ihn das Leben, das wir führen, binnen einer Woche umbrächte.«

»Ich... ich verstehe nicht«, murmelte Talianna. »Was meint Ihr damit – nicht mitnehmen? Wollt Ihr ihn denn hier zurücklassen?«

Gedelfi schnaubte. »Er meint damit, daß –«

»Ich meine«, fiel ihm Hraban mit leicht erhobener Stimme und sehr rasch ins Wort, »daß ich nachgedacht habe, über dich und deine Leute, Talianna. Du sagst, deine Familie ist tot. Von diesen Leuten hier ist niemand mit dir verwandt?«

Talianna verneinte, und wieder blickte Hraban sie eine endlose Sekunde lang an. »Ich kann nicht bleiben«, fuhr er fort. »Ein Teil meiner Leute wird noch hierbleiben und tun, was zu tun ist, aber ich muß fort, und zwar noch heute. Was würdest du davon halten, mit mir zu kommen?« fragte er dann geradeheraus.

»Mit... mit Euch kommen?« wiederholte Talianna verwirrt. »Wieso? Ich... ich meine... was... weshalb...« Sie begann zu stammeln, brach ab und sah beinahe flehend zu Gedelfi; aber natürlich bemerkte der Blinde ihren Blick nicht.

»Mit Euch kommen?« wiederholte sie schließlich noch einmal.

»Warum nicht?« sagte Hraban. »Was gibt es hier noch, was das Bleiben für dich lohnte. Niemand wird hierbleiben, und ein zehnjähriges Mädchen ohne Verwandte oder Freunde hat kein sehr angenehmes Leben zu erwarten. Nicht in einem Land wie diesem. Außerdem«, fügte er mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu, »muß ich gestehen, daß du mir gefällst. Ich hatte einmal eine Tochter, die dir sehr ähnlich war, in deinem Alter.«