»Kein Trick.« Tally zögerte einen Moment; dann hob sie die Hand und deutete auf den Berg hinter sich. »Du hast mich nicht besiegt, Jandhi. Er war es.«
Jandhi blickte sie einen Herzschlag lang verdutzt an. Dann nickte sie. »Hast du gedacht, wir sitzen schutzlos herum und warten darauf, überfallen zu werden?« fragte sie. »Niemand besteigt diesen Berg, der keine Flügel hat.« Sie seufzte. »So viel Tote, Talianna. So viel verschwendete Energie... war es das wert?«
Tally schwieg. Jandhis Frage war nicht von der Art, die eine Antwort erwartete. Und nach einer Weile schüttelte sie auch den Kopf und beantwortete sie selbst: »Nein, das war es nicht. Wärst du doch gleich zu uns gekommen, statt einen Privatkrieg zu beginnen. So viel hätte anders sein können.«
»Ach?« sagte Tally. »Hättet ihr ein paar Städte weniger niedergebrannt?«
Jandhis Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. Sie hob die Hand, wie um Tally zu schlagen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern senkte den Arm wieder und seufzte abermals. »Vielleicht gab es wirklich keinen anderen Weg«, murmelte sie. »Aber du wirst erkennen, wie sehr du dich getäuscht hast, Tally. Und deine beiden Freunde dort auch.«
Sie wies mit einer Kopfbewegung auf Angella und Hrhon. Der Waga war zu weit entfernt, um ihre Worte zu hören, aber Angella hatte jede Silbe verstanden. Zu Tallys Überraschung schwieg sie jedoch.
»Was hast du mit ihnen vor?« fragte Tally.
Jandhi drehte sich sehr langsam herum und blickte erst Angella und dann den Waga nachdenklich an, ehe sie sich wieder an Tally wandte.
»Ich nehme an, du willst jetzt um ihr Leben bitten«, sagte sie abfällig.
»Und wenn?«
Jandhi lachte leise. Aber sie antwortete nicht auf Tallys Frage, sondern trat statt dessen einen Schritt zurück und hob die Hand.
In die schwarzgekleideten Kriegerinnen kam Bewegung. Vier von ihnen packten Hrhon und stießen ihn mit angelegten Waffen vor sich her; zwei andere ergriffen Angella unter den Achseln und zerrten sie grob auf einen der Drachen zu.
Jandhi machte eine einladende Handbewegung. »Darf ich dich einladen, auf meinem eigenen Tier zu reiten?« fragte sie spöttisch. »Diese Art zu reisen ist dir ja nicht fremd, oder? Ich glaube, du bist fliegen gewohnt.« Tally versuchte den Sarkasmus in ihren Worten zu ignorieren. »Hast du keine Angst, daß ich dich aus dem Sattel stoße?« fragte sie böse.
Jandhi lächelte. »Sicher nicht«, sagte sie. »Was hättest du schon davon? Du bist nicht hier, weil du mich umbringen willst, oder?«
»Der Gedanke ist verlockend.«
»Das Risiko gehe ich ein«, antwortete Jandhi ruhig. »Es ist nicht sehr groß, weißt du? Ich kenne dich besser, als du ahnst.«
»So?«
Jandhi nickte. »Ich war einmal wie du, Talianna«, sagte sie. »Ein junges Mädchen voller Haß und Zorn, das sein eigenes Leben weggeworfen hätte, um die zu vernichten, die es zu hassen glaubte. Hast du dich für einmalig gehalten?« Sie lachte. »Es gibt viele wie dich – Männer und Frauen und Kinder, die uns den Tod schwören. Die meisten gehen zugrunde, ehe sie uns auch nur nahe kommen. Manchen gelingt es sogar, uns Schaden zuzufügen. Gewöhnlich töten wir sie.«
»Und sonst?« fragte Tally.
Jandhi lachte leise. »Manche nehmen wir in unsere Dienste«, sagte sie. »Wenn sie gut sind. Du bist gut. Und jetzt erspare mir und dir bitte große Worte wie niemals oder lieber sterbe ich«, fügte sie rasch hinzu. »Das habe ich weiß Gott schon oft genug gehört.« Sie seufzte. »Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich selbst etwas Ähnliches gesagt. Aber das ist lange her. Komm jetzt – du wirst alles erfahren. Und danach wirst du vielleicht einsehen, wie dumm du gewesen bist.«
Begleitet von vier von Jandhis schwarzgekleideten Kriegerinnen bewegten sie sich auf den Drachen zu. Tally verspürte nun doch – wenn auch sehr schwache – Angst, aber es war keine Furcht vor der Kreatur selbst, sondern die instinktive Abneigung gegen alles Reptilische, Kalte, das wohl jeder Mensch in sich trug, die Millionen Jahre alte Furcht vor der anderen, großen Lebensform, die diese Welt lange vor dem Menschen beherrscht hatte, welche sie selbst in Hrhons Gegenwart vollkommen überwunden hatte.
Gleichzeitig – so absurd es war – kam ihr wieder zu Bewußtsein, wie schön der Drache war: ein Gigant, trotz seiner Größe elegant und leicht, von der Farbe der Nacht und schimmernd wie ein riesiger, schwarzer Diamant. Sie hatte einmal geglaubt, das Lodern in den Augen des Drachen wäre Bosheit, aber das stimmte nicht. Es war so wenig Bosheit, wie es Intelligenz war – während sie sich an Jandhis Seite auf die titanische Flugechse zubewegte, begriff sie, daß die Drachen nichts anderes als Tiere waren, ungeheuer große und ungeheuer starke Tiere, aber nicht mehr. Sie waren so wenig böse, wie es die Waffen in den Händen von Jandhis Kriegerinnen waren – nur Werkzeuge, mehr nicht.
Irgendwie beruhigte sie dieser Gedanke.
Fünfzig Schritte vor dem turmhohen Ungeheuer blieben sie stehen. Jandhi löste einen kleinen, kastenförmigen Gegenstand von ihrem Gürtel und drückte rasch hintereinander drei oder vier Tasten auf seiner Oberfläche; der Drache erwachte aus seiner Starre, stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus und senkte den Schädel. Dicht vor Jandhi berührte der gepanzerte Unterkiefer des Kolosses den Felsboden. Ein Auge starrte sie an, das größer war als Tallys Kopf.
Jandhi drehte sich zu ihr herum und wiederholte ihre auffordernde Geste. »Keine Angst«, sagte sie. »Er tut dir nichts. Er ist sanft wie ein Lamm' – solange ich es will.« Bei diesen Worten hob sie den kleinen Kasten in ihrer Hand. Ein Lächeln erschien auf ihren Zügen, das Tallys Verwirrung zu jähem Zorn werden ließ.
»Gibt es irgend etwas womit du nicht spielst?« fragte sie mit mühsam beherrschter Stimme.
Ihr Zorn schien Jandhi zu amüsieren, denn ihr Lächeln wurde noch breiter. »Du versteht nicht«, sagte sie. »Aber wie könntest du auch? Es hat nichts mit Zauberei oder gar schwarzer Magie zu tun, weißt du?« Sie hob den Kasten und deutete gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf die gigantische geflügelte Kreatur, die wie ein lebender Berg über ihnen in den Himmel ragte. »Wir pflanzen Sensoren in ihre Gehirne, wenn sie noch sehr jung sind. Das ist völlig schmerzlos und ungefährlich. Täten wir es nicht, wären sie vermutlich längst ausgestorben. Oder niemals geboren worden – je nach dem. Aber jetzt komm.«
Tallys Blick irrte unsicher zwischen ihr und dem Drachen hin und her. Sie verstand Jandhis Worte nicht, und noch viel weniger verstand sie, warum sie sie überhaupt aussprach. Aber gleichzeitig glaubte sie zu spüren, daß Jandhis plötzliche Redseligkeit nicht von ungefähr kam. Jandhi verriet ihr all dies nicht, um ihr vor Augen zu führen, wie klein und machtlos sie in Wahrheit war – das hatte sie weiß Gott nun nicht mehr nötig. Nein – sie verfolgte einen ganz bestimmten Zweck damit. Aber welchen? Glaubte sie wirklich, ein paar Worte und ein wenig magischer Hokuspokus würden genügen, Tally alles vergessen zu lassen, wofür sie die letzten siebzehn Jahre ihres Lebens geopfert hatte? Lächerlich! Sie sprach nichts von ihren wahren Gedanken aus, sondern trat mit einem raschen Schritt an Jandhis Seite und sah sie fragend an. Jandhi deutete einladend auf den Drachen. Tally sah jetzt, daß im Nacken des Kolosses eine Art Sattel befestigt war, eine komplizierte Konstruktion aus Leder und Stahl, lächerlich klein gegen den Giganten, der sie trug. Der bloße Gedanke, dort hinauf-, zusteigen, erfüllte sie mit einer kreatürlichen Angst, gegen die sie für einen Moment hilflos war.
Und Jandhi schien ihre Angst zu spüren, denn sie forderte sie nicht noch einmal auf, in den Sattel zu steigen, sondern trat mit einem schnellen Schritt auf einen der hornigen Stachel, die aus dem Schädel des Drachen herausragten, zog sich mit einer geübten Bewegung in den Sattel hinauf und machte erst dann eine gleichermaßen auffordernde wie befehlende Geste. Tally gehorchte. Langsamer als Jandhi und mit vor Aufregung und Furcht hämmerndem Herzen näherte sie sich dem Drachen, blieb noch einmal stehen und kletterte schließlich zu Jandhi hinauf.