Es war ein entsetzliches Gefühclass="underline" es war im Grunde nicht schwerer, als einen Baum zu erklimmen, aber der Gedanke, daß sie auf einer der Bestien saß, die ihre Familie – ihr Leben – verbrannt hatten, vor einer der Frauen, die den Befehl dazu gegeben hatten, ja, vielleicht dabei gewesen waren, brachte sie schier um den Verstand. Alles in ihr schrie danach, sich einfach herumzudrehen und Jandhi zu töten, und wenn es das Letzte wäre, was sie in ihrem Leben tat. Aber sie durfte es nicht. Nicht, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte. Nicht jetzt.
»Halt dich gut fest!« befahl Jandhi.
Tally hatte kaum Zeit, ihrem Befehl zu folgen und sich am Rand des Sattels festzuklammern.
Der monströse Schlangenhals unter ihr bewegte sich in die Höhe; beinahe gleichzeitig breitete der Gigant die Schwingen aus und stieß sich mit einem ungeheuer kraftvollen Satz ab.
Tally hatte niemals einen Drachen starten sehen, aber allein ihre ungeheure Größe hatte sie ganz instinktiv annehmen lassen, daß es sich um einen schwerfälligen Vorgang handeln mußte – ein albernes Flattern wie das eines Kormorans vielleicht. Aber der Drache sprang einfach in die Höhe, schlug nur ein einziges Mal mit den Flügeln und schoß in den Himmel wie ein Pfeil.
Tally begriff plötzlich, wieso Jandhi so wenig Angst davor gehabt hatte, von ihr angegriffen und vielleicht in die Tiefe gestoßen zu werden – selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie kaum Gelegenheit dazu gefunden; denn sie brauchte all ihre Kraft und Aufmerksamkeit, sich am Sattel festzuhalten und nicht selbst abzustürzen. Die Wüste, die Kriegerinnen und die beiden anderen Drachen fielen unter ihr in die Tiefe, als hätte sich unter dem Schlund ein weiterer, noch gewaltigerer Abgrund aufgetan, um die Welt zu verschlingen. Eisiger Wind peitschte ihr Haar, schnitt wie mit Messern in ihr Gesicht und trieb ihr die Tränen in die Augen, während der Drache in die Höhe schoß, wie ein übergroßer Adler auf dem Wind reitend und nur sehr selten mit den Flügeln schlagend. Die schwarze Flanke des Drachenfelsens glitt vor ihnen in die Tiefe, kippte zur Seite und nach rechts und verschwand für einen Moment aus ihrem Blickfeld, als Jandhi den Drachen in einem weit geschwungenen Bogen herumzwang.
Dann lag der Berg unter ihnen. Tally konnte nicht viel erkennen, denn ihre Augen waren noch immer voller Tränen. Trotzdem war sie überrascht – sie hatte ein Plateau erwartet, vielleicht mit einer Art Festung, einer monströsen Stadt der Drachen; aber unter ihr lag nichts als eine gigantische, schwarze Nadel aus glänzender Lava, scharf wie ein Speer, der die Wolken aufzuschlitzen trachtete.
Erst als sich der Drache dem Berg mehr und mehr näherte, sah sie die Höhlen – es waren Hunderte –, die in seiner Flanke gähnten; manche nicht größer als Fenster, andere gigantisch genug, einem halben Dutzend Drachen zugleich Einlaß zu gewähren. Sie war ein wenig enttäuscht, den sagenumwobenen Hort der Drachen als nichts anderes als einen hohlen Berg vorzufinden, ein übergroßes Rattenloch.
Jandhi steuerte ihr Tier auf eine der größeren Höhlenöffnungen zu. Ganz instinktiv zog Tally den Kopf zwischen die Schultern, als der Felsen auf sie zusprang, aber der Drache glitt elegant in den Berg hinein, ohne daß die Spitzen seiner Flügel den Fels auch nur berührten. Sie landeten im hinteren Drittel der Höhle. Jandhi sprang mit einer federnden Bewegung aus dem Sattel, noch ehe sich der Drachenhals vollends gesenkt hatte, trat zurück und wartete, bis Tally ihr gefolgt war – weit langsamer und weniger elegant als sie.
Ihre Augen tränten noch immer, und die wenigen Momente, die sie dem schneidenden Wind ausgesetzt gewesen war, hatten sie vor Kälte steif werden lassen. Ihre Finger schmerzten so sehr, daß sie Mühe hatte, sich an den Hörnern des Drachen festzuhalten. Sie verstand die abenteuerliche Aufmachung der Drachentöter jetzt ein wenig besser.
Schaudernd – und nicht nur vor Kälte zitternd – sah sie sich um. Es war dunkel in der Höhle, obgleich unter der Decke und längs der Wände Dutzende der großen, weißes Licht verströmenden Zauberlampen brannten. Der Boden atmete Wärme, aber durch den Höhleneingang strömte eisige Luft herein, und der Gestank der Drachen war überwältigend.
Gestalten bewegten sich in der grauen Dämmerung – Frauen in den schwarzen Kleidern von Jandhis Schwestern, aber auch andere, größere Silhouetten. Schatten, deren Schwarz tiefer und deren Konturen härter waren; Gestalten, die sich auf zu vielen Beinen mit falsch angeordneten Gelenken bewegten, deren Schritte klickende Chitin-Echos auf dem Felsboden hervorriefen, deren Augen Tally kalt wie große geschliffene Halbkugeln aus Kristall musterten. Hornköpfe. Zumindest ihrem ersten Eindruck nach schien dieser Berg viel mehr eine Stadt der Hornköpfe als der Drachen zu sein.
Und da war noch etwas.
Tally wußte nicht, was es war – aber im gleichen Moment, in dem sie den Boden berührte, vielleicht sogar schon vorher, ergriff eine sonderbare Unruhe von ihr Besitz, etwas, das nichts mit ihrer Furcht oder der fremdartigen Umgebung zu tun hatte. Ein wenig erinnerte sie das Gefühl an das, das sie in Karans Sumpf gehabt hatte, auch wenn es gleichzeitig ganz, ganz anders war: aber sie spürte, daß irgend etwas hier war, irgend etwas Fremdes, Böses, ungemein Mächtiges. Und es waren nicht Jandhi und ihre Drachen.
Tally schauderte. Eine entsetzliche Angst bemächtigte sich ihrer, und es war keine Angst mehr vor dem Tod, vor irgend etwas, das sie körperlich bedrohte, sondern...
Nein – sie wußte nicht, was es war. Irgend etwas, ein Teil ihrer menschlichen Seele, zog sich zusammen wie ein getretener Wurm, als sie das Fremde spürte, das diesen Ort beherrschte, etwas Düsteres, Altes; etwas durch und durch Unmenschliches; etwas, das so alt war wie diese Welt, vielleicht älter, und das vom ersten Tag der Schöpfung an der Feind aller anderen denkenden Kreaturen gewesen war.
Tally hatte niemals an derartige Dinge geglaubt – aber jetzt fragte sie sich allen Ernstes, ob es so etwas wie das personifizierte Böse und die Hölle vielleicht doch gab. Und ob sie beidem nicht vielleicht sehr viel näher war, als sie noch vor Augenblicken geahnt hatte...
Sie sah, wie Jandhi sich umwandte und mit einer der insektoiden Kreaturen sprach. Sie verstand die Worte nicht, aber ihr Tonfall und die Gesten, die sie auf beiden Seiten begleiteten, erschreckten sie. Die Bewegungen des Hornkopfes waren herrisch, voller Ungeduld und Zorn. Und Jandis Antworten... Tally wußte, wie absurd der Gedanke war: aber für einen Moment fragte sie sich, wer von den beiden der Sklave, und wer der Herr war... Schließlich endete der kurze Disput so abrupt, wie er begonnen hatte. Der Hornkopf deutete mit einer zornigen Geste auf sie und drehte sich herum, um Jandhi einfach stehenzulassen. Und hätte Tally nicht ganz genau gewußt, daß es unmöglich war, hätte sie in diesem Moment geschworen, daß seine Facettenaugen sie mit stummer Wut gemustert hatten.
Auf Jandhis Gesicht spiegelten sich Zorn und Ohnmacht, als sie sich zu Tally herumdrehte. Dann bemerkte sie ihren verwunderten Blick und versuchte, sich in ein Lächeln zu retten. Ganz gelang es ihr nicht, und sie merkte es wohl selbst.
»Was war das, Jandhi?« fragte Tally verstört. »Dieser... dieser Hornkopf – wer war er?«
Jandhi seufzte. Für einen Moment verdunkelten sich ihre Augen vor Zorn, dann huschte ein sehr sonderbares, fast resignierendes Lächeln über ihre Züge. »Komm mit«, sagte sie. »Du wirst verstehen. Bald.«
6
Die Stadt der Drachen war ein Labyrinth aus Gängen und Stollen, aus Treppenschächten und gigantischen, leeren Felsendornen, aus jäh aufklaffenden Abgründen und bodenlosen Schlünden, in deren Tiefe ein unheimliches rotes Feuer glomm. Ein halbes Dutzend bewaffneter Hornköpfe nahm Tally und Jandhi in Empfang, als sie die Höhle durchquerten, und noch einmal die gleiche Anzahl der schrecklichen schwarzen Kreaturen stieß zu ihnen, als sie tiefer ins Innere des hohlen Berges eindrangen.