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Tally hatte gehofft, Hrhon und Angella wenigstens noch einmal wiederzusehen, aber diese Hoffnung wurde enttäuscht: Jandhi führte sie durch ein wahres Labyrinth niedriger, kaum beleuchteter Gänge und Treppen tiefer und tiefer in den Berg hinein, und das einzige menschliche Leben, auf das sie trafen, waren drei oder vier schwarzgekleidete Drachentöchter, die jedoch respektvoll beiseitetraten, als sie Jandhi und ihre Eskorte erblickten.

Dafür wimmelte der Berg von Hornköpfen.

Tally sah im wahrsten Sinne des Wortes Tausende der schrecklichen Kreaturen, in allen nur denkbaren (und ein paar undenkbaren...) Formen und Größen – angefangen von kaum handspannengroßen, emsig hin und her hastenden Geschöpfen von termitenähnlichen Aussehen bis hin zu titanischen Kreaturen, halb so groß wie eine Hornbestie und gewaltige Lasten schleppend.

Schließlich erreichten sie einen Teil der Drachenstadt, in der die Räume kleiner und heller erleuchtet waren; nach und nach nahmen die menschlichen Stimmen wieder zu und das schrille Pfeifen und Sirren der Hornköpfe ab; sie bewegten sich wieder in eine Welt hinein, die wengistens die Illusion von Normalität bot, und sei es nur, weil die meisten Lebewesen, denen sie jetzt begegneten, aus weichem Fleisch statt aus stahlhartem schwarzem Chitin bestanden.

Sie betraten einen großen, vollkommen leeren Saal, in dem Jandhi einen Moment lang stehenblieb und den Kopf auf die Seite legte; fast als lausche sie auf eine für Tally unhörbare Stimme, und als sie weitergingen, blieb der allergrößte Teil ihrer Eskorte hinter ihnen zurück. Nur noch zwei der gewaltigen Rieseninsekten begleiteten Tally – was allerdings mehr als genug war, jeden Gedanken an Flucht oder Widerstand schon im Keim zu ersticken.

Die beiden Hornköpfe gehörten zu einer Spezies, die Tally noch niemals zuvor gesehen hatte: es waren übermannsgroße, ungemein kräftige Kreaturen, deren Chitinpanzer über und über mit Dornen und rasiermesserscharfen Kanten besetzt waren. Und als reichten die Waffen noch nicht aus, die ihnen die Natur mitgegeben hatte, trug jeder der aufrecht gehenden Scheußlichkeitten gleich vier Schwerter – eines in jeder Hand. Angella, Hrhon und sie zusammen hätten wohl kaum eine Chance gehabt, auch nur eines dieser Ungeheuer zu besiegen.

Und Tally dachte auch gar nicht an Flucht. Sie war nicht hier, um zu kämpfen – wenigstens nicht auf diese Art.

Sie durchquerten den Saal und betraten einen kleineren, spartanisch eingerichteten Raum, dessen Südwand von einem großen, vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster gebildet wurde. Sein Glas war so klar, daß Tally es erst bemerkte, als sie mit den Fingerspitzen dagegenstieß.

Dann begriff sie, daß es gar kein Fenster war. Sie hatten sich tiefer in den Berg hineinbewegt, nicht nach oben, und die Landschaft, die sich unter ihr ausbreitete, war auch nicht die karge Steinwüste des Schlunds, sondern... ja, was eigentlich?

Sie erinnerte sich nicht, jemals eine Landschaft wie diese erblickt zu haben. Unter ihr, unendlich tief unter ihr, wie es schien, breitete sich ein idyllisches Muster aus Wiesen und Wäldern aus, durchzogen von kleinen, willkürlich gewundenen Bächen und glitzernden Seen. Hier und da glaubte sie Bewegung wahrzunehmen, ohne genau sagen zu können, was sie verursachte. Sehr weit im Norden, wie mächtige Schatten auf dem Horizont schwimmend, waren Berge, mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen.

»Gefällt es dir?« fragte Jandhi. Sie lächelte, trat an die Wand neben dem Fenster und berührte einen Schalter, der dort angebracht war.

Die Waldlandschaft verschwand. Statt dessen war unter Tally plötzlich Wasser, eine ungeheure, unvorstellbare Menge von Wasser, vom Sturm zu zehnfach mannshohen, schaumgekrönten Wogen gepeitscht.

Tally sprang mit einem erschrockenen Schrei zurück, starrte Jandhi an und dann wieder das so jäh erschienene Meer und schließlich wieder Jandhi. »Was... was ist das?« stammtelte sie. »Das ist...«

»Zauberei?« Jandhi lachte amüsiert, schüttelte den Kopf und berührte abermals die Wand. Das tobende Meer wich einer öden, von einer blutigroten bösen Sonne überstrahlten Wüstenlandschaft.

»Es ist keine Zauberei«, sagte Jandhi. »So etwas gibt es nicht, Talianna. Auch, wenn dir das meiste von dem, was du hier sehen wirst, so vorkommen wird.«

Wieder hob sie die Hand, und wieder wechselte das Bild hinter dem Fenster: jetzt erstreckte sich dort eine Stadt, wenn auch eine, wie sie Tally niemals zuvor erblickt hatte – sie sah Häuser von geradezu absurder Höhe, breite, mit weißem Marmor gepflasterte Straßen, kühn geschwungene Bögen und Brücken; Gebäude, deren Aussehen zu phantastisch war, als daß sie irgendeinen Vergleich fand, der auch nur annähernd gepaßt hätte. Die Stadt war... phantastisch. Und sie war groß, unvorstellbar groß.

»Es ist keine Zauberei, Tally«, sagte Jandhi noch einmal, aber plötzlich sehr leise und fast wie zu sich selbst gewandt. Tally sah rasch zu ihr hinüber und erkannte, daß auch sie auf das Bild blickte, und ein sonderbarer, fast melancholischer Ausdruck hatte sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet.

»Es sind nur Bilder«, fuhr Jandhi fort, mit einer Stimme, die sehr traurig klang. »Bilder einer Zeit, die lange zurückliegt. Hunderttausende von Jahren, Talianna.« Sie seufzte, hob die Hand, als wolle sie das Bild der Stadt abschalten, tat es aber dann doch nicht. Tally sah, wie schwer es ihr fiel, den Blick von der phantastischen Stadt zu lösen und sie anzusehen. »Es sind nur Bilder«, sagte sie noch einmal.

»Bilder?« Es fiel Tally schwer, zu antworten. »Aber sie... sie bewegen sich.«

»Trotzdem.« Jandhi lächelte. Plötzlich gab sie sich einen Ruck, drehte sich vom Fenster weg und wandte sich an die beiden Hornköpfe. »Geht hinaus«, sagte sie. Die beiden Rieseninsekten zögerten, und Jandhi sagte noch einmal und in merklich schärferem Ton: »Geht. Ich rufe euch, wenn ich euch brauchen sollte. Tally wird vernünftig sein.« Sie sah Tally an. »Das wirst du doch, oder?«

»Habe ich eine andere Wahl?«

Jandhi seufzte. Aus irgendeinem Grund schien Tallys Antwort sie zu ärgern. Aber sie ging nicht darauf ein, sondern wiederholte nur ihre auffordernde Geste zu den Hornköpfen, und diesmal gehorchten die beiden Kreaturen. Tally spürte eine fast körperliche Erleichterung, als sich die Tür hinter den Hornköpfen schloß und sie mit Jandhi allein war. Und auch Jandhi atmete hörbar auf.

»Ich werde mich wohl nie an sie gewöhnen«, sagte sie lächelnd. »Verrückt, nicht – sie sind die treuesten Verbündeten, die ich mir wünschen kann, und gleichzeitig fürchte ich sie.«

Sie sah Tally an, als erwarte sie eine ganz bestimmte Antwort, zuckte schließlich die Schultern und setzte sich auf einen der niedrigen, unbequem aussehenden Stühle. Ihre Hand machte eine einladende Geste, aber Tally rührte sich nicht.

»Es geziemt sich nicht für eine Sklavin, neben den Herren zu sitzen«, sagte sie böse.

Jandhi seufzte. Aber die scharfe Antwort, mit der Tally rechnete, kam auch jetzt nicht. Ganz im Gegenteil trat ein Ausdruck von Trauer in ihren Blick. »Du verstehst noch immer nicht«, sagte sie. »Du bist so wenig mein Sklave, wie ich dein Feind bin. Wir haben gegeneinander gekämpft, und du hast verloren.«

»Bist du sicher?« fragte Tally.

Jandhi nickte. »Es gibt keinen Grund mehr für dich, den Kampf fortzuführen. Alles, was du erreichen könntest, wäre dein eigener Tod. Du warst gut, Tally, aber nicht gut genug für uns. Niemand ist das.« Sie sprach sehr ruhig, und fast ohne Gefühl. Ihre Worte waren eine Feststellung, keine Drohung, und schon gar keine Angabe. Und vielleicht hatte sie recht.

»Möglich.« Tally zuckte mit den Achseln. »Aber vielleicht kommt irgendwann doch jemand, der –«

»Der uns gewachsen ist?« Jandhi lachte. »Niemals, Tally. Die Töchter des Drachen, das sind nicht nur ich und die, die du hier siehst. Es gibt Tausend von uns, überall auf der Welt, an Hunderten von Orten. Selbst wenn es dir gelungen wäre, diese Festung zu zerstören, hättest du nichts erreicht.«