Tally starrte sie an; schwieg. Sie spürte, daß Jandhi auf eine ganz bestimmte Reaktion wartete; vermutlich ein Frage- und Antwortspiel beginnen wollte, in dem ihre und Tallys Rollen von vorn herein festgelegt waren. Tally tat ihr den Gefallen nicht.
»Warum haßt du uns so?« fragte Jandhi schließlich. Sie hob die Hand, als Tally antworten wollte, und fügte hinzu: »Sag jetzt nicht, daß wir deine Eltern getötet oder deine Heimatstadt verbrannt haben. Das ist nicht der wahre Grund. Viele hassen uns, weil wir für den Tod ihrer Freunde oder Verwandte verantwortlich sind, aber das ist es nicht. Dein Haß hat einen anderen Grund. Einen, der tiefer geht. Sag ihn mir.«
Wie zur Antwort schien sich irgend etwas in Tally zu rühren, etwas Mächtiges und Altes und ungeheuer Starkes, von dem sie bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es da war. Aber sie ließ sich nichts von ihren wahren Gefühlen anmerken, sondern starrte Jandhi nur weiter an; so kalt und gleichzeitig so voller Verachtung, wie sie nur konnte. »Warum sollte ich?«
»Ich kenne die Antwort«, behauptete Jandhi. »Aber ich möchte sie aus deinem Mund hören.«
Tally schwieg, und wie sie erwartet hatte, fuhr Jandhi nach einer Weile von selbst fort:
»Also gut, dann werde ich es dir sagen – verbessere mich, wenn ich einen Fehler mache. Deine Heimat war Stahldorf, nicht wahr?«
Diesmal gelang es Tally nicht mehr vollends, ihre Überraschung zu verbergen. Sie nickte. »Woher weißt du das?«
»Ich weiß alles über dich«, antwortete Jandhi. Sie setzte sich bequemer hin, soweit dies auf dem metallenen Hocker überhaupt möglich war, schlug die Beine übereinander und sah Tally sehr lang und nicht einmal auf unfreundliche Weise an.
Tally ihrerseits fragte sich, wieviel Zeit ihr noch blieb – sie war schon sehr lange in diesem verdammten Berg, und sie wußte noch immer nicht, wo ihr wahrer Feind eigentlich zu finden war. Sie wußte nicht einmal, wie er aussah; sie spürte nur, daß Jandhi und ihre Schwestern es nicht waren. Und daß sie ihn erkennen würde, wenn sie ihm gegenüberstand.
»Wir wissen alles über dich«, sagte Jandhi noch einmal. »Vielleicht mehr als du selbst. Nach dem Angriff auf den Turm haben wir begonnen, Erkundigungen über dich einzuziehen.« Sie lächelte flüchtig. »Es war nicht leicht«, gestand sie. »Du hast deine Spur gut verwischt. Aber eine Frau und ein Waga, die allein durch die Welt ziehen, bleiben nicht lange unentdeckt. Du stammst also aus Stahldorf. Du warst die einzige Überlebende, nicht?«
»Die einzige, die Hraban am Leben gelassen hat, ja.« Jandhi runzelte flüchtig die Stirn, aber sie ging nicht weiter auf Tallys Bemerkung ein. »Du hast ihn geheiratet«, stellte sie fest. »Warum?«
»Warum fragst du, wenn du alles weißt?«
»Weil ich versuchen möchte, dich zu verstehen«, antwortete Jandhi. »Du hast den Mann geheiratet, der dein Dorf niedergebrannt hat. Einen Mann, der in unseren Diensten stand. Wußtest du, daß wir deine Sippe ausgelöscht haben?«
Tally wußte es nicht, aber es überraschte sie auch nicht. Sie schwieg.
»Du warst klug«, gestand Jandhi. »Nach dem Gemetzel, das du im Turm angerichtet hattest, starteten wir eine Strafexpedition gegen deine Sippe. Wir haben ihr Dorf verbrannt und sie ausgelöscht – alle.« Sie seufzte.
»Ein Fehler, wie ich jetzt weiß. Du hast sie von Anfang an nur benutzt, nicht wahr? Du hast Hraban nicht aus Liebe geheiratet, sondern nur, um sein Vertrauen zu erringen.«
»Es war der einzige Weg, um an euch heranzukommen«, antwortete Tally. Sie wollte nicht reden, denn sie spürte, daß Jandhi nun doch erreichte, was sie vorgehabt hatte – sie in eine Lage zu manövrieren, in der sie hilflos war.
Schon jetzt war sie halb in die Defensive gedrängt. Aber sie konnte auch nicht schweigen. Es war zu viel. Sie hatte all dies zu lange mit sich herumgetragen, ihren Haß zu lange geschürt, ja, ihn beschützt wie einen Schatz, weil er das einzige war, das sie noch am Leben erhalten hatte. Und jetzt stand sie einer der Frauen gegenüber, der dieser Haß galt. Sie konnte einfach nicht mehr schweigen.
»Ja!« schrie sie. »Ich wollte sein Vertrauen erringen! Ich habe ihn geheiratet, weil ich ihn benutzen wollte – und? Du und deine Drachen, ihr habt mir alles genommen, was ich hatte. Ich habe Hraban meinen Körper gegeben, weil ich ihm nichts anderes geben konnte? Und? Findest du das unmoralisch?«
Das letzte Wort hatte sie auf eine Art ausgesprochen, die Jandhi zusammenfahren ließ. Aber sie schwieg, und Tally fuhr, noch immer sehr erregt und halbwegs schreiend, fort: »Ich habe geschworen, euch zu vernichten. Damals, als ich aus dem Wald trat und meine Heimatstadt brennen sah, habe ich es geschworen, Jandhi, und ich –«
»Und du hast Hraban und seine Sippe benutzt, diesen Schwur zu halten«, unterbrach sie Jandhi, nun ebenfalls zornig. »Die Menschen, bei denen du aufgewachsen bist. Die dir Heimat und Familie waren, Tally! Sie haben dich aufgenommen, als du niemanden mehr hattest! Und sie sind tot, durch deine Schuld.«
»Menschen?« Tally spie das Wort hervor wie eine Obszönität. »Menschen, Jandhi? Sie waren Mörder, schlimmer als die Tiere. Hrhon und Essk sind für mich tausendmal mehr Menschen als Hrabans Mordgesindel.«
»Du hast dazugehört!« sagte Jandhi scharf. »Nach Hrabans Tod hast du die Sippe geführt. Du warst es, der an seiner Stelle Städte und Dörfer niederbrennen ließ! Wie viele gibt es jetzt wohl, die dich hassen, so wie du Hraban gehaßt hast?«
»Viele«, antwortete Tally ungerührt. »Aber es mußte sein. Anders wäre ich nicht an euch herangekommen.«
»Und uns wolltest du ja haben!«
»Ja, das wollte ich!« schrie Tally. »Euch. Ich... ihr Ungeheuer! Ihr beherrscht diese Welt! Ihr führt euch auf wie die Götter, und ihr vernichtet jeden, der es wagt, euch zu widersprechen.«
»Und du hast dich niemals gefragt, warum?«
Tally schwieg einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich will es nicht wissen«, sagte sie. »Ich bin sicher, du hast tausend gute Gründe, aber was ich gesehen und erlebt habe, reicht.«
»Was hast du denn gesehen?« fragte Jandhi geduldig.
»Du hast einen großen Teil des Kontinents durchquert, den du deine Welt nennst, Tally. Also, was hast du gesehen? Ich will es dir sagen: du hast eine friedliche Welt voller friedlicher Menschen gesehen. Seit mehr als zehntausend Jahren wachen wir und unsere Drachen über den Frieden auf dieser Welt, Tally. Wir haben ihn erhalten.«
»Frieden?« Tally schnaubte. »Den Frieden des Todes, ja.«
»Aber das stimmt doch nicht!« Jandhi schüttelte heftig den Kopf, lächelte aber. »Sag mir – hast du ein Land gesehen, das vom Krieg verwüstet worden wäre? Hast du eine Stadt gesehen, deren Bewohner Hunger leiden mußten, weil ihre Felder verbrannt worden sind, oder ihre Könige zu hohe Steuern verlangten? Du weißt es nicht, aber deine Welt ist ein Paradies, Tally. Es gibt keine Kriege – jedenfalls keine großen – keinen Hunger, keine Seuchen, keinen Haß. Die Menschen leben hundert Jahre und mehr, ehe sie friedlich sterben, um der nächsten Generation Platz zu machen. Das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, da war ein Jahrzehnt ohne Krieg etwas Besonderes. Unsere Drachen und wir haben dieser Welt den Frieden gebracht. Für dich und viele andere sind wir Ungeheuer, Dämonen und was weiß ich sonst noch. Aber das stimmt nicht. Wir sind Wächter, Tally.«
»Wächter?« Tally schnaubte. »Worüber? Ihr zwingt die Menschen, wie Tiere zu leben, und nennt das, was herauskommt, Frieden?« Sie spie aus. »Meine Eltern wurden getötet, weil sie Stahl gemacht haben, Jandhi! Hraban hat Städte niedergebrannt, deren Bewohner herausfanden, wie man ein Feld zweimal im Jahr aberntet statt einmal. Ich selbst habe einen Mann erschlagen, der nichts anderes tat, als einen Wagen zu erfinden, der besonders große Lasten transportiert.«
»Ich weiß.« Jandhi seufzte. »Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Gerade jetzt zum Beispiel sind zehn meiner Schwestern unterwegs, jemanden zu suchen, der die Elektrizität neu entdeckt hat. Wir achten darauf, daß die Menschen dieser Welt niemals wieder eine technologische Zivilisation entwickeln. Aber wir haben einen Grund dafür, Tally.«