Sie blieben erst stehen, als sie nach Tallys Schätzung schon sicherlich wieder den halben Weg zum Schlund hinabgestiegen waren. Des letzte Licht war längst über ihnen zurückgeblieben, aber einer der Hornköpfe hatte im Vorübergehen eine Fackel aus einem der Wandhalter mitgenommen, so daß sie sich im Zentrum eines flackernden, ständig seine Form verändernden Kreises blasser roter Helligkeit bewegten.
Manchmal mußten sie durch knöcheltiefe Pfützen aus faulig riechendem Wasser waten, das aus Rissen in der Decke tropfte, dann wieder wurde es so heiß, daß Tally kaum mehr atmen konnte und ihr Gesicht brannte. Die Wände hier unten waren nicht bearbeitet, sondern irgendwann, vielleicht schon vor Jahrmillionen, durch eine Laune der Natur entstanden; gleichzeitig erinnerten sie Tally an übergroße Wurmgänge, und ein Teil ihrer Phantasie, über den sie irgendwie die Kontrolle verloren hatte, gaukelte ihr schwarze, sich windende schlangenähnliche Dinge vor, die die Dunkelheit vor ihr erfüllten, aber stets verschwanden, ganz kurz, bevor das Licht der Fackel sie berühren konnte.
Aber dann war es nur eine ganz normale, wenn auch außergewöhnlich große Tür, vor der sie stehenblieben, eine Tür aus geschwärztem Eisen, an dem der Rost seit Jahrtausenden fraß, ohne ihm ernsthaft Schaden zufügen zu können. Tally erwartet, daß Jandhi klopfen oder sich anders bemerkbar machen würde, aber sie tat nichts dergleichen, sondern blieb einfach reglos stehen. Und es dauerte auch nur ein paar kurze Augenblicke, bis aus dem Inneren der Tür ein schweres, schabendes Geräusch zu hören war. Ein verborgener Mechanismus setzte sich in Gang, dann schwang die gewaltige Tür beinahe lautlos vor Jandhi zurück. Tally sah, daß sie fast einen Meter stark war.
Dann sah sie für Sekunden gar nichts mehr, denn der Raum dahinter war von gleißender weißer Helligkeit erfüllt, die ihre an das schwache Licht gewöhnten Augen für Momente blind sein ließen. Selbst Jandhi wurde zu einem verschwommenen Schatten, dessen Konturen sich im grellen Licht wie in leuchtender Säure aufzulösen schienen.
Einer der beiden Hornköpfe gab ihr einen Stoß, der sie weiterstolpern ließ. Ganz instinktiv breitete sie die Arme aus, fühlte kühles glattes Leder und klammerte sich an Jandhis Arm fest, um nicht zu stürzen.
Der Hornkopf stieß ein wütendes Zischen aus, packte sie mit drei seiner vier Arme und riß sie zurück. Tally versuchte sich loszureißen, aber gegen die gewaltigen Körperkräfte des Insektenwesens hatte sie keine Chance.
»Laß sie los!« befahl Jandhi scharf. »Das war kein Angriff! «
Der Griff der harten Insektenklauen lockerte sich, aber nur ein wenig und auch nur für einen ganz kurzen Moment. Dann riß er Tally noch einmal und noch heftiger zurück und beantwortete Jandhis Befehl mit einem agressiven Pfeifen.
»Zum Teufel, du sollst sie loslassen!« befahl Jandhi noch einmal. Wütend trat sie auf Tally und den Hornkopf zu und machte eine herrische Geste. Und endlich lösten sich die hornigen Insektenklauen von Tallys Armen und Hals.
»Es tut mir leid«, sagte Jandhi, nun wieder an sie gewandt. »Sie sind so dumm, wie sie stark sind. Und sie sind sehr stark.«
Tally schwieg. Ihre Augen begannen sich allmählich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, und was sie sah, nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
Die Höhle war gigantisch – groß genug, eine kleine Stadt hineinzubauen, was irgend jemand auch getan hatte. Der Eingang lag nicht ebenerdig, sondern fast auf halber Höhe der an die hundert Meter messenden, steinernen Kuppel, so daß Tally die phantastische Anlage zur Gänze überblicken konnte: die Höhle wirkte wie eine verkleinerte und nach außen gestülpte Ausgabe des Berges, in dessen Herz sie lag.
Auf dem Boden erhoben sich schwarzbraune, sonderbar asymmetrisch wirkende Bauwerke, die Tally an Insektennester erinnerten – und es wohl auch waren –, und in den Wänden gähnten Dutzende, wenn nicht Hunderte unterschiedlicher großer und tiefer Löcher. Manche von ihnen waren Gänge, die tiefer hinein ins gewachsene Gestein des Berges führten, andere erweiterten sich zu großen, von düsterrotem Fackellicht erfüllten Sälen, in denen gepanzerte Gestalten von phantastischem Aussehen unverständliche Dinge taten; wieder andere waren nur lichtlose Schächte, die einen Meter, aber auch eine Meile tief sein mochten.
Und überall Hornköpfe.
Wohin Tally auch sah, erblickte sie die schwarzen und brauen Insekten, viele davon Spezies angehörend, von denen sie noch niemals gehört hatte. Überall krabbelte und wogte und bewegte es sich. Das Scharren Millionen stahlhart gepanzerter Füße und Leiber lag wie eine bizarre Musik in der Luft.
Und über allem lag die Nähe des Feindes wie ein düsterer Atem.
Abermals drängte sich Tally der Vergleich mit einem gewaltigen, finsteren Herzen auf, ein schwarzes Zentrum ruhig pulsierender, düsterer Energien, das diesen Berg, seine Bewohner, vielleicht sogar die ganze Welt, beherrschte und lenkte.
Und das Gefühl, das sie schon seit langem beschlichen hatte, wurde immer drängender und klarer – daß nämlich selbst Jandhi und ihre Drachen nur Spielzeuge einer anderen, weit höheren Macht waren.
Jandhi berührte sie beinahe sanft am Arm und deutete nach links. Tally blickte gehorsam in die Richtung und erkannte, daß der Weg noch nicht zu Ende war: eine schmale, sehr steile steinerne Treppe führte neben ihnen in die Tiefe und endete vor einer weiteren Tür aus Stahl, die vielleicht noch massiver war als die, durch die sie gerade getreten waren. Ganz instinktiv fragte sie sich, warum die Türen hier unten so massiv waren. Beschützten sie das, was dahinter lag, vor der Welt? Oder die Welt vor dem, was sie verbargen?
»Wohin... bringst du mich?« fragte sie zögernd. Plötzlich hatte sie Angst, ganz entsetzliche Angst, wenn auch aus völlig anderen Gründen, als Jandhi annehmen mochte.
Sie bekam auch diesmal keine direkte Antwort, aber zumindest spürte Jandhi ihre Erregung und ging nicht einfach wortlos weiter, wie die beiden Male zuvor, sondern drehte sich noch einmal zu ihr um und lächelte; auf eine Art, die Tally unter allen anderen denkbaren Umständen zur Weißglut getrieben hätte. Jetzt machte sie ihr Angst.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie, so sanft und nachsichtig, als redete sie mit einem verschüchterten Kind. »Ich habe mir nicht diese ganze Mühe gemacht, um dich jetzt zu töten, weißt du?«
»Wo sind Angella und Hrhon?« fragt Tally. »Ich möchte sie sehen.«
»Später«, antwortete Jandhi. »Sie sind in Sicherheit – keine Sorge. Niemand wird ihnen etwas tun. Du wirst sie sehen, aber nicht jetzt. Jetzt ist keine Zeit dazu. Sie wartet nicht gerne.«
»Sie?« Tally wich ganz instinktiv einen Schritt vor Jandhi zurück. »Wer ist das?«
»Komm mit, und du wirst es erfahren«, erwiderte Jandhi. In ihrer Stimme lag nun eine schwache, aber unüberhörbare Spur von Ungeduld – und der unausgesprochene Hinweis, daß sie Tally auch ebensogut zwingen konnte, ihr zu folgen.
Tally verstand beides. Nach einem letzten Blick auf die wimmelnde schwarzbraune Tiefe unter ihr folgte sie Jandhi. Die beiden Hornköpfe schlossen sich ihnen lautlos an.
Die Tür schwang auf, ehe sie sie erreicht hatten. Dahinter lag ein vielleicht zwanzig Schritt langer, sehr niedriger Gang.
Und hinter ihm der Pfuhl.
Es gab keinen anderen Ausdruck dafür, kein anderes Wort, das dem, was sich Tally bot, auch nur annähernd entsprochen hätte. Und auch er reichte nicht wirklich aus, den tödlichen Schrecken, das abgrundtiefe Entsetzen zu beschreiben, das Tally beim Anblick des Unbeschreiblichen überfiel.