Die Höhle war riesig – eine hundert Meter messende Halbkugel aus schwarzem Stein, deren Wände von Fäulnis und Schimmel zerfressen waren. Die Luft stank nach Aas und Verwesung und war von flackernder, irgendwie krank wirkender grüner Helligkeit erfüllt. Tausende von schwarzen, wimmelnden Insekten bedeckten die Wände wie ein lebender Teppich, unbeschreibliche Dinge herbei- und hinwegschleppend, hingen in großen lebenden Trauben von der Decke oder ballten sich auf dem Boden vor Tally zu pulsierenden Knäueln. Zwischen ihnen erhoben sich ganze Berge von halbverfaultem Aas, tierische – aber auch ein paar menschliche!! – Kadaver, verwest und abgenagt und mit einem widerlichen, grünlichschwarzem Schleim überzogen.
Und im Zentrum dieses Kreises aus Entsetzen und Ekel hockte das Ungeheuer.
Tally wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Der bloße Anblick der Kreatur lähmte sie, zerschmetterte ihren Willen wie ein Hammerschlag dünnes Eis, löschte ihr Bewußtsein aus, ließ nichts übrig als ein winziges hilfloses Teil, in dem für nichts anderes Platz war als Ekel und Entsetzen und Abscheu und Angst, Angst, Angst, Angst...
Sie war eine Gigantin. Jedes einzelne ihre acht kalten, tausendfach gebrochenen Facettenaugen war größer als Tally, jedes einzelne der borstigen, halbverkümmerten Beine ein Baum, bedeckt mit drahtigem Fell, das wie schwarzer Stahl glänzte, der absurd aufgedunsene Hinterleib groß wie ein Schiff, von armdicken, rasch pulsierenden Adern überzogen, in denen selbst wiederum etwas Kleines, Dunkles, Körniges zu krabbeln schien. Ekel, unbeschreiblicher Ekel packte Tally, schüttelte sie wie Fieber und fegte für einen Moment selbst ihre Furcht hinweg. Sie taumelte, stöhnte, krümmte sich wie unter Schmerzen und versuchte mit aller Kraft, den Blick von der hundert Meter großen Scheußlichkeit zu lösen, weil sie spürte, daß allein der Anblick sie töten würde, mußte sie ihn noch lange ertragen.
Sie konnte es nicht. Der Blick der titanischen Kreatur lähmte sie, machte sie hilflos, bannte sie. Sie konnte sich nicht bewegen. Nicht atmen. Nicht denken. Ihr Herz schlug nicht.
Und dann spürte sie, wie irgend etwas in sie hineingriff, eine ungeheuerliche, unsichtbare Hand, kalt wie gefrorenes Glas und ebenso schneidend, in ihre Gedanken drang, sie sondierte und prüfte, tiefer glitt, sich mit der erbarmungslosen Präzision einer Maschine in ihr Bewußtsein wühlte, jeden einzelnen ihrer allergeheimsten Gedanken las und abwog...
... und zurückprallte!
Und im gleichen Augenblick erwachte das Ungeheuer in ihr. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber für Tally verging eine Ewigkeit:
Sie spürte, wie sich das Ungeheuer vor ihr aufbäumte, seinen entsetzlichen Leib vielleicht zum erstenmal seit einem Jahrtausend bewegte, in einer grauenerregenden, entsetzten Bewegung zurückprallte, als es begriff, was Tally mit sich brachte. Und sie spürte, wie irgend etwas in ihr barst, ein Kokon, unsichtbar und lauernd bisher, finsterpulsierende Energien, die sie unbemerkt in sich gehabt hatte, wie die Trägerin einer tödlichen Krankheit. Und im gleichen Moment, noch immer im selben, zeitlosen Augenblick, begriff sie.
Es war dieses... Ding, dessen Nähe sie gespürt hatte, die schwarze Riesin, deren Geist diesen Berg durchflutete wie stinkender Atem. Nicht Jandhi und ihre Drachen waren die wahren Herrscher dieser Insel – sondern sie! Jandhis Geschichte war wahr, und doch war sie so falsch, wie sie nur sein konnte. Und sie wußte es vermutlich selbst nicht einmal. Sie hatte von den Überlebenden gesprochen, von den Nachfahren des letzten Krieges, die nach tausend Jahren zurück ans Tageslicht gekrochen waren, um das Erbe der untergegangenen Menschen anzutreten.
Aber sie hatte Tally nicht gesagt, wer diese Überlebenden gewesen waren.
Sie waren keine Menschen gewesen.
Es waren die Insekten.
Hornköpfe. Schwarze chitingepanzerte Ungeheuer, die den Weltuntergang tief verborgen im Inneren der Erde überstanden hatten und hervorkrochen, lange bevor der erste Mensch es wagte, seinen Schutz zu verlassen. Mutierte Bestien, vielleicht durch die entfesselten Urgewalten menschlicher Waffen zu dem geworden, was sie jetzt waren, die antraten, den uralten Kampf um die Vorherrschaft auf dieser Welt zu entscheiden. Und sie hatten ihn entschieden. Sie waren es, die sich selbst zu Sklaven machten und doch herrschten. Sie waren es, die unerkannt unter den anderen Rassen und Völkern lebten, dumme Tiere, Lastenträger und Krieger, die doch in Wahrheit an den Fäden des Schicksales zogen. Sie waren es, die die Töchter des Drachen erschufen, die Drachen selbst und Männer wie Hraban. Besäen wie diese, titanische, unsterbliche Rieseninsekten, körperliche Monstrositäten mit den Gehirnen von Göttern, die wußten, daß sie den Menschen und die anderen Bewohner dieser Welt brauchten, um zu überleben, und die wußten, daß er sie vernichten würde, sollt er jemals ihr wahres Selbst erkennen. Und jemals die Macht dazu haben.
Bestien wie diese waren es, die den Befehl zur Vernichtung jeglichen menschlichen Fortschrittes gegeben hatten und ihn weiter geben würden. Die wahren Herrscher der Welt waren nicht die Menschen, nicht Jandhis Drachenreiterinnen und ihre fliegenden Giganten, sondern die Hornköpfe sein, ein riesiges Heer stumpfsinniger Kreaturen, das zusammen ein einziges, ungeheuerliches Bewußtsein bildete, vielleicht diese ganze Welt umspannend.
Tally krümmte sich, als all dieses Wissen über sie hereinbrach, mit der Gewalt einer Sturzflut und gesprochen von der Stimme eines Gottes. Der Stimme Gäas, des zweiten, ungeheuerlichen Monstrums, das draußen unter dem Schlund lag und wartete, so alt wie diese Welt, tausendmal älter als der Mensch und vom ersten Tag an der Erzfeind der Insekten. Sie schrie, als sie begriff, daß sie zum Spielball einer anderen, ebenso erbarmungslosen Macht geworden war, eine Waffe wie Jandhi und ihre Drachen, nur viel tödlicher. Vielleicht war es von Anfang an so geplant. Vielleicht war nichts Zufall gewesen, von allem, was geschehen war.
Das Ungeheuer hinter ihr begann zu toben. Die Höhle bebte, als es sich aufbäumte, zuckend, schreiend, schwarzen Schleim und Blut und Kot verspritzend wie ein lebender Geysir, während ihr aufgedunsener Hinterleib noch immer Eier ausspie, unfähig seit zehntausend Jahren, damit aufzuhören; eine boshafte Karikatur des Lebens, die nur noch zu zwei Dingen fähig war: Denken und Gebären. Eines der baumdicken Beine zerbrach wie Glas. Das Ungeheuer brüllte, neigte sich zur Seite und stürzte, kreischend vor Schmerz und Angst, als es begriff, was Tally war.
Und dann, für einen ganz kurzen Moment, fand sie noch einmal in die Wirklichkeit zurück. Das unsichtbare Etwas in ihr zog sich zurück, entließ ihren Geist noch einmal aus seinem Würgegriff, als es Kraft zum letzten, entscheidenden Hieb sammelte. Für Sekunden fand Tally die Kontrolle über ihren Körper zurück.
Taumelnd bewegte sie sich auf Jandhi zu, streckte die Hände nach ihr aus und fiel, als ihre Kräfte versiegten. Die beiden Hornköpfe neben ihr pfiffen vor Angst, begannen zu toben, wie außer Kontrolle geratene schreckliche Maschinen, als die Angst der Insektenkönigin in ihre Köpfe kroch, und auch Jandhi schrie auf, prallte gegen die Wand und schlug beide Hände gegen die Schläfen. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie Tally anstarrte.
Die Höhle verwandelte sich in ein Chaos. Der Teppich aus lebenden Insekten zerbarst, als wären tausend Vulkane unter dem Boden ausgebrochen. Die Insektenkönigin schrie, bäumte sich abermals auf und fiel hilflos zurück, Tausende ihrer Diener unter sich zermalmend. Etwas Schwarzes, ungeheuer Großes wogte auf sie zu.
»Jandhi!« schrie Tally. »Lauf! Flieh! Nimm deine Drachen und flieh!«
Ihre Stimme ging im Kreischen der Insektenkönigin unter. Aber selbst, wenn Jandhi die Worte verstanden hätte, hätte sie kaum mehr darauf reagiert. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Geist frei gewesen, und vielleicht hatte sie sogar begriffen, daß sie und die anderen nichts als Werkzeuge gewesen waren, willenlose Spielzeuge dieser schwarzen Abscheulichkeit, deren Gedanken ihren Willen und ihren Geist beherrschten. Aber der Augenblick verging, und Tally konnte sehen, wie der Funke von freiem Willen in ihrem Blick wieder erlosch. Ihre Hand kroch zum Gürtel und dem Laser, den sie darin trug.