Das matte Schwarz des Höhlenbodens war unter einer hellen, sonderbar organisch wirkenden Schicht verborgen, einem weißlich schimmerndem Pilzgeflecht, in dem es hier und da brodelte und zuckte. Ein seltsamer, gleichzeitig fremder wie auf erschreckende Weise bekannter Geruch hing in der Luft, und nach einer Weile hörte sie ein leises Wispern und Raunen, das von überallher zugleich zu kommen schien. Es war warm, viel wärmer, als sie diesen Teil der Festung in Erinnerung hatte, und es war eine Wärme, die auf schwer in Worte zu fassender Weise lebendig wirkte.
Neue Einzelheiten tauchten aus dem verschwommenen Bild auf: Der Boden war nicht eben. Hier und da wuchsen große, assymmetrische Umrisse aus der weißlichen Masse, zuckend und fließend wie sie selbst, aber von etwas dunklerer Färbung, und sie sah jetzt, daß sich das dünne Pilzgeflecht auch über die Wände erstreckte, nicht so dicht wie auf dem Boden, sondern wie ein Netz, großen tausendfingrigen Händen gleich, die sich nach dem schwarzen Fels ausgestreckt hatten und bereits die Decke berührten, sich aber noch nicht ganz berührten.
»Großer Gott!« stammelte sie. »Was... laß mich herunter, Hrhon.«
Der Waga tauschte einen fragenden Blick mit Tally, ehe er gehorchte. Sehr behutsam stellte er sie auf die Füße, ließ die Hände aber an ihrer Taille liegen, um sie aufzufangen, sollte sie stürzen.
Aber Angella stürzte nicht. Was sie sah – und vor allem, was es bedeutete! – ließ selbst ihre Schwäche unwichtig werden. Ihre Augen gewöhnten sich schneller und schneller an das helle Licht, und mit jeder Sekunde erblickte sie weiter, entsetzliche Einzelheiten. Der helle Belag auf dem Boden lebte. Und die dunklen Einschlüsse darin waren...
»Du... du hast es hierhergebracht? stammelte sie.
»Großer Gott, Tally, du hast... du hast Gäa hergebracht – das Ungeheuer aus dem Schlund!«
»Tally hat getan, was getan werden mußte«, antwortete Tally ruhig. »Sie allein wäre zu schwach gewesen, den Kampf zu entscheiden.«
»Sie?« Angellas Augen weiteten sich entsetzt. Langsam, als kämpfe sie gegen unsichtbare Fesseln, drehte sie sich herum und sah Tally an. »Sie?« wiederholte sie.
»Tally, du... du sprichst wie...«
Sie brach ab. Eine eisige Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen und es zusammenzupressen, langsam, aber mit unbarmherziger Kraft. Zum ersten Male sah sie Tallys Gesicht im hellen Licht des Tages. Und sie erkannte, daß es nicht Tally war. Nicht mehr. Es war etwas, das wie Tally aussah, sich wie sie bewegte und – fast – wie sie sprach, aber es bestand nicht mehr aus Fleisch und Blut, sondern aus einer weißlichen, pulsierenden Masse, auf den ersten Blick, gleich hellglitzerndem Schleim, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch als eine Zusammenballung von Milliarden und Milliarden haardünner, glänzender Fäden erwies. Würmer oder Wurzeln, oder vielleicht eine entsetzliche Mischung aus beidem.
Entsetzt fuhr sie herum und starrte Hrhon an. Aber er war noch er selbst – ein gepanzerter Gigant, dessen geschlitzte Schildkrötenaugen scheinbar ausdruckslos auf Tallys Gesicht ruhten. Angella brauchte all ihre Kraft, sich wieder herumzudrehen und das Etwas anzusehen, das einmal Tally gewesen war.
»Du bist nicht Tally«, sagte sie. Es war eine reichlich überflüssige Feststellung, aber sie mußte es einfach sagen.
Das Ding in Tallys Gestalt rührte sich nicht, und nach einer Weile wandte Angella wieder den Blick und zwang sich, die Höhle noch einmal anzusehen. Irgend etwas in ihr revoltierte gegen das entsetzliche Bild, das sich ihr bot, aber sie zwang sich, es zu ertragen; denn trotz allem war es nicht so schlimm wie der Anblick Tallys. Die weiße Masse aus Wurzelgeflecht war überall, hatte Felsen und Stein und Metall überwuchert und sich zu knotigen, glänzenden Gebilden zusammengefunden, die sanft pulsierten, alle im gleichen Rhythmus, als gäbe es da irgendwo ein gewaltiges Herz, in dessen Takt sie schlugen.
Es gab nichts, wovor sie Halt gemacht hatte, und es mußte sehr schnell gegangen sein; denn manche der Gestalten, die sie eingewoben hatten, waren in bizarren Haltungen erstarrt, als hätte der Tod sie mitten in der Bewegung überrascht. Bei den meisten war nicht mehr zu erkennen, ob sie Mensch oder Tier gewesen waren: ihre Körper waren aufgelöst, zum Teil bereits absorbiert von der gewaltigen, fressenden Pflanzenmasse, zum Teil aber noch intakt, unbeschädigt, aber eingesponnen, wie in das Netz einer gewaltigen Spinne. Einige schienen sogar noch zu leben...
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen sein mußte, aber ihre Phantasie reichte nicht, es in Bilder umzusetzen. Der Kampf mußte entsetzlich gewesen sein und von vornherein aussichtslos. Sie hatte gesehen, wie schnell und rücksichtslos dieses Ding zuschlug, draußen im Sumpf unter dem Wald, und hier mußte es schlimmer gewesen sein, tausendfach schlimmer.
»Was hast du mit Tally getan?« flüsterte sie.
»Nichts«, antwortete das entsetzliche Wesen. »Es war ihr eigener Wunsch.«
»Ihr –«
»Sssie wollte esss«, mischte sich Hrhon ein. Angella drehte sich verblüfft herum und starrt den Waga an.
»Sie wollte was? keuchte sie. »Das hier?!«
Hrhon versuchte ein menschliches Nicken nachzuahmen. »Sssie whussste esss«, behauptete er. »Sssie sssagte esss mir, in der Nacht, bhevhor sssie sssich Jandhi erghab. Dher Ssschlund vherlanghte ein Ohpfer, uhnd sssie whollte nisst, dasss isss es bin. Oder dhu.« Angella stand wie gelähmt da. »Sie hat es... freiwillig getan?« murmelte sie. »Sie ... sie hat dieses... dieses Ding absichtlich hierher gebracht?«
»Einen Teil«, bestätigte Tally. »Das Ganze ist im kleinsten meiner Teile, so wie der geringste meiner Teile das Ganze ist. Du trauerst um sie, Angella, aber das ist nicht nötig. Tally lebt, wenn auch auf andere Weise.«
»Oh ja«, sagte Angella. »Gleich wirst du mir erzählen, daß sie die Unsterblichkeit erlangt hat, wie?«
Ihr Spott prallte von dem Wesen an ihrer Seite ab, weil es so etwas wie Spott oder Sarkasmus nicht kannte. Es nickte.
»In gewisser Weise, ja. Tally wußte, was sie erwartete. Sie wurde nicht gezwungen. Das Wesen, das ihr Gäa nennt, mag euch grausam erscheinen, aber es ist es nicht. Nur erbarmungslos. Und auch das nur zu seinen Feinden. Den Feinden des Lebens.«
»Und wir?« flüsterte Angella. »Gehören wir... auch dazu? Willst du Hrhon und mir auch die Unsterblichkeit verleihen?«
»Wenn ihr es wünscht, wird Tally es tun«, antwortete Tally mit großem Ernst. »Doch wenn ihr es nicht wünscht, könnt ihr gehen. Ihr seid frei. Tally wird euch den Weg zeigen, wie ihr von hier entkommen könnt. Wenn ihr bereit seid, den Kampf fortzuführen.«
»Welchen Kampf?« flüsterte Angella. »Hier... hier lebt doch nichts mehr!«
»Hier nicht«, bestätigte Tally. »Dieser Ort gehört jetzt mir, und so wird es auf ewig bleiben. Aber es gibt viele Orte wie diese.«
Angella erschrak. »Soll das heißen, es ist noch nicht vorbei?« keuchte sie.
»Esss hat noch nissst einmal rissstig beghonnen«, zischte Hrhon.
»Der Waga wird dir die Geschichte erzählen, die er von Tally hörte«, sagte Tally. »Doch jetzt müßt ihr gehen. Rasch, solange Tally euch noch zu schützen vermag.« Angella starrte sie an, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie noch einmal die alte Tally im Blick des Pflanzenmonsters vor ihr zu erkennen, eine winzige Spur von ihr, die noch nicht Teil des monströsen Kollektivbewußtseins dort draußen im Sumpf geworden war. Jenes winzige Etwas, das sie und Hrhon noch schützte. Aber es schwand, und wenn es völlig fort war, dann würde dieser gigantische lebende Krebs auch sie verschlingen, so erbarmungslos und kalt, wie er die Hornköpfe verschlungen hatte, Jandhis Kriegerinnen und die Drachen.