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»Wir werden es tun«, flüsterte sie. »Wir werden deine Rache beenden. Ich verspreche es dir, Tally.«

Noch einmal blickte Tally sie an, und ein ganz kurzes, unendlich erleichtertes Lächeln glomm in ihren Augen auf.

Dann erlosch ihr Blick.

Für immer.

»Das... ist aber eine sehr traurige Geschichte«, sagte das Mädchen.

Seit langer Zeit waren es die ersten Worte, die einer von ihnen sprach. Die Frau hatte geredet, mit sehr ruhiger, sehr sanfter Stimme, in der etwas von der Trauer mitklang, die das Mädchen selbst verspürte; ein Schmerz, der viel zu gewaltig war, als daß es sein wahres Ausmaß jetzt schon begreifen konnte. Danach hatten sie beide geschwiegen, fast ebenso lange, und auch dieses Schweigen war voller Trauer gewesen. Jetzt nickte die fremde Frau. Wieder hob sie die Hand und berührte die des Mädchens, und diesmal fuhr das Kind nicht unter der Berührung zusammen, sondern erwiderte den Händedruck der Fremden sogar. Sie hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber sie konnte es nicht.

»Das ist es«, bestätigte die Frau. Sie lächelte. Das Mondlicht zauberte Schatten auf ihre Züge, die sie älter erscheinen ließen, als das Mädchen sie bisher eingeschätzt hatte. Vielleicht so alt, wie sie war. »Sie ähnelt deiner, bis hierhin wenigstens. Auch du bist die letzte Überlebende.«

»Die Letzte?« Das Mädchen blinzelte, drehte den Kopf und blickte zu den Ruinen der brennenden Stadt zurück. Über den Trümmern hing noch immer ein roter Hauch, und mit dem Wind wehte Brandgeruch herbei.

»Was geschah mit den anderen?« fragte es nach einer Weile, und ohne die Frau anzublicken. »Mit dem Blinden und der verrückten Frau?« .

»Hrabans Männer haben sie getötet«, antwortete die Fremde.

»Sie waren natürlich keine Söldner, und sie kamen auch nicht zufällig vorbei. Aber das alles hat Talianna erst später erfahren.« Sie zögerte fast unmerklich, und als sie weitersprach, war in ihrer Stimme ein bitterer Klang. »Sehr viel später.«

»Was geschah mit ihr?« fragte das Mädchen.

»Mit Talianna?« Die Fremde lächelte traurig. »Es gibt sie nicht mehr, Kleines.«

»Hat Hraban sie auch getötet?« fragte das Mädchen erschrokken. Sie wußte nicht, warum, aber der Gedanke machte ihr Angst. Sie wollte es nicht.

»Getötet?« Die Fremde lächelte. »Nein. Aber er... machte eine andere aus ihr. Er nahm sie mit zu sich, zu seinen Leuten, weißt du? Und später hat er sie geheiratet.«

»Geheiratet?« wiederholte das Mädchen ungläubig. »Er?«

»Warum nicht? Talianna war ein hübsches Mädchen, und sehr klug. Und sie hatte ja niemanden mehr, zu dem sie gehörte.«

Es fiel dem Mädchen schwer, die Worte der Frau zu glauben, und sie sagte es.

Wieder lächelte die Fremde auf diese sonderbare, fast unheimliche Art. »Du verstehst nicht, warum sie es tat«, sagte sie.

»Dabei ist die Antwort sehr einfach. Sie hatte etwas, das ihr Kraft gab. Ihren Haß.«

»Haß?« Das Mädchen verstand nun gar nichts mehr. Wie konnte jemand jemanden aus Haß heiraten?

»Haß«, bestätigte die Frau. »Den gleichen Haß, den auch du jetzt spürst, Kind. Haß auf die, die ihre Familie getötet hatten. Die ihre Heimat verbrannten, ihr Leben vernichteten. Vielleicht spürst du es jetzt noch nicht, aber er wird kommen. Du mußt dich dagegen wehren, hörst du? Er ist eine große Kraft, aber er ist nicht gut. Lasse nicht zu, daß er Gewalt über dich erlangt.«

»Aber Talianna –«

»Talianna existierte schon bald nicht mehr«, unterbrach sie die Frau. »Sie heiratete Hraban und wurde eine andere. Sie änderte sogar ihren Namen und nannte sich nur noch Tally.«

»Tally.« Das Mädchen wiederholte den Namen ein paarmal in Gedanken, ehe sie zu dem Schluß kam, daß er ihr nicht gefiel. Nicht so gut wie Talianna. Sie sagte es.

»Ich weiß«, sagte die Fremde. »Er klingt... härter. Gnadenloser. Und so wurde sie auch. Der Haß zerfraß sie, ohne daß sie es selbst merkte, und wenn, wäre es ihr gleich gewesen, denn er gab ihr auch Kraft. Die Kraft, alles zu erreichen, was sie wollte.«

»Und was war das?« fragte das Mädchen.

»Rache«, antwortete die Frau. »Macht. Die Macht, die zu finden, die für den Tod ihrer Stadt verantwortlich waren, und zu bestrafen. Sie heiratete Hraban, und fünf Jahre später tötete sie ihn und wurde selbst zur Anführerin der Sippe.« Die Augen des Mädchens wurden groß vor Staunen, als sie dies hörte, aber die Frau nickte, um ihre Worte zu bekräftigen.

»Sie nahm Hrabans Stelle eine, sagte sie. »Oh, es war nicht leicht, denn sie war eine Frau, und eine Fremde dazu. Aber der Haß gab ihr die Kraft, ihr Ziel zu erreichen.« Sie schwieg einen Moment, nahm die Hand vom Arm des Mädchens und blickte in den Himmel empor, als suche sie etwas.

»Und was hat sie getan?« fragte das Mädchen, als die fremde Frau nicht von selbst weitersprach, Seine Neugier war geweckt, und die Geschichte der Fremden half ihr, den entsetzlichen Schmerz in ihrem Inneren wenigstens für eine kurze Weile zu vergessen. Und sie hat te das Gefühl, daß das, was sie hörte, von großer Wichtigkeit war, wenn sie auch nicht wußte, warum.

»Ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte die Frau. »Sie dachte es, damals, nach Hrabans Tod, aber das stimmte nicht. Sie haßte noch immer, mehr als zuvor, und als es Hraban nicht mehr gab, da suchte sie sich etwas Neues, was sie hassen und bekämpfen konnte...«

Epilog

»Das war... eine sehr traurige Geschichte«, sagte das Mädchen. Einen Moment lang wartete es auf eine Antwort der fremden Frau, aber es bekam keine, und eigentlich hatte es auch nicht damit gerechnet. Es sah auf. Die fremde Frau mit den dunklen Haaren hatte sich gegen einen Baum gelehnt und die Augen geschlossen. Ihr Gesicht lag im Schatten, und es sah aus, als schliefe sie. Aber sie war wach. Nur ein Teil von ihr schien noch in der Vergangenheit zu weilen, bei Tally und Hrhon und all den anderen, die für wenige kurze Stunden durch ihre Worte wieder Leben bekommen hatten.

»Hat sie Wort gehalten?« fragte das Mädchen schließlich.

»Tally?« Die Frau nickte. »Ja. Es war nicht einmal besonders schwer für Angella und Hrhon, den Drachenfels zu verlassen, weißt du? Jedenfalls nicht im Vergleich zu dem, was sie ertragen mußten, um ihn zu erreichen. Nicht alle Drachen waren tot. Ein paar von ihnen waren fortgeflogen, bevor Tally den Berg erreichte, und sie kamen nichtsahnend zurück.«

»Aber Gäa –«

»Vernichtete sie alle«, sagte die Fremde. »Alle bis auf einen, dessen Reiter Angella und Hrhon überwältigten. Sie zwangen sie, ihnen das Geheimnis zu verraten, wie man die Drachen lenkte.«

Das Mädchen dachte einen Moment lang darüber nach, wie man jemanden wie eine Drachenreiterin zu irgend etwas zwingen konnte. Aber dann kam es zu dem Schluß, daß es die Antwort eigentlich gar nicht wissen wollte.

»Diese Geschichte ist... ist wahr, nicht?« sagte es ganz leise. »Ich meine – du hast sie dir nicht nur ausgedacht um... um mir die Zeit zu vertreiben, oder mich zu trösten. Die Fremde nickte. »Sie ist wahr.«

»Dann gefällt sie mir nicht«, sagte das Mädehen nach kurzem überlegen. »Sie ist häßlich, und sie hat kein gutes Ende.«

»Sie hat überhaupt kein Ende«, sagte die Fremde. »Hast du vergessen, was Hrhon gesagt hat – es hat gerade erst begonnen.«

»Aber Tally ist doch tot. Sie hat sich selbst geopfert. Warum?«

»Weil es der einzige Weg war«, sagte die Fremde. »Ihr Leben war sinnlos geworden, weißt du? Sie lebte nur noch für ihre Rache, und als sie begriff, daß sie zu schwach war, ihre Feinde besiegen zu können, tat sie das einzige, was ihr noch blieb. Ich glaube«, fügte sie mit veränderter Stimme und nach einer hörbaren Pause hinzu, »in Wirklichkeit war sie schon lange tot. Wahrscheinlich ist sie auch gestorben, damals, als ihre Stadt verbrannte.«

Ihre Worte erfüllten das Mädchen mit Schmerz. Auch seine Stadt war verbrannt, mit allen, die es gekannt und geliebt hatte. Ob sie eines Tages auch so werden würde wie Tally? Die Fremde schien ihre Gedanken zu erraten. Vielleicht waren sie auch deutlich auf ihrem Gesicht abzulesen. »Es war nicht umsonst, Kleines«, sagte sie sanft. »Ich weiß, was du jetzt fühlst – auch deine Stadt ist zerstört, und du hast wie Tally die Drachen gesehen, die es getan haben, nicht wahr?« Das Mädchen nickte. Schwieg.