Es war nicht der Umstand, daß sie tot war. Der Anblick des Todes in jeder nur vorstellbaren Form gehörte seit fünfzehn Jahren zu ihrem Leben wie die täglichen Mahlzeiten und die niemals endenden Ritte und Heereszüge. Sie hatte mehr Tote gesehen als so mancher General einer großen Armee, und nur die allerwenigsten davon waren auf natürliche Art und Weise ums Leben gekommen. Sie hatte selbst getötet, Menschen und nicht-Menschen, Hornköpfe und Tiere, Männer und Frauen, Alte und selbst Kinder: unzählige Male, manchmal nur durch ein Wort oder ein Schwei- . gen im richtigen Moment, manchmal mit eigener Hand. Mitleid? Irgendwann zwischen jenem schicksalsschweren Morgen vor fünfzehn Jahren und heute hatte sie verlernt, was dieses Wort bedeutete. Nein – es war nicht der Anblick des Todes, der sie so hart traf und abermals stehenbleiben ließ.
Es war der Gedanke, daß sie ihrem Feind gegenüberstand. Einem ihrer Feinde. Und es spielte überhaupt keine Rolle, daß er tot war.
Es waren Frauen wie diese hier gewesen, die die Drachen geritten hatten, große, schlank gewachsene Frauen in braunen Lederanzügen, die eng wie eine zweite Haut am Leib anlagen und in der Nacht schwarz ausgesehen hatten. Wäre es nicht zu jung gewesen, dann hätte das tote Mädchen auf der Treppe selbst bei ihnen gewesen sein können.
Zum ersten Mal, seit sie aufgewacht war, machte sich ein schwaches Gefühl von Triumph in ihr breit, wenn auch nur für Augenblicke. Sie hatte sehr wenig Grund, zu jubilieren. Statt der Befriedigung, die der Anblick des toten Mädchens in ihr hätte wachrufen sollen, machte sich eine düstere Unruhe in ihr breit. Ohne, daß sie es genauer begründen konnte, hatte sie plötzlich das Gefühl, nicht am Ende, sondern vielmehr am Anfang ihrer Suche zu sein.
Sie vertrieb den Gedanken, richtete sich wieder auf und begann vorsichtig die Treppe zu ersteigen. Die beiden Wagas folgten ihr in geringem Abstand. Es hatte Tally mehr als nur simple Überredung oder Bitten gekostet, Hrhon davon abzuhalten, hundert Schritte vor ihr zu gehen und den Weg nach Fallen oder einem möglichen Hinterhalt abzusuchen. Aber es wäre irgendwie wie Gotteslästerung gewesen, hätte einer der beiden Wagas den Turm vor ihr betreten.
Vorsichtig gingen sie weiter, und schon nach kurzer Zeit verschwand jeder Gedanke an das, was sie auf der anderen Seite des Turmes antreffen mochten, aus Tallys Bewußtsein; denn sie mußte all ihre Konzentration aufwenden, um weiterzugehen. Was von unten betrachtet wie ein sanft geschwungener Bogen ausgesehen hatte, entpuppte sich bald als eine gewaltige Steigung, die all ihre Kraft verlangte, zumal die Stufen vom Wind glattgeschliffen und schlüpfrig wie Glas waren.
Die Tiefe schien sie zu sich herabsaugen zu wollen, und mit jedem Schritt, den sie weiter auf die Brücke hinaustrat, hatte sie mehr das Gefühl, die ganze gewaltige Konstruktion unter sich beben und zittern zu fühlen. Sie war sich durchaus darüber im klaren, daß das unmöglich war, nichts als ein böser Streich, den ihr ihre Nerven spielten: der Stein war massiv wie ein Berg und regte sich um keinen Deut. Aber dieses Wissen nutzte verdammt wenig. Ein anderthalb Meter breiter Pfad ist so gut wie eine zehnfach so breite Landstraße, wenn er über ebenes Gelände führte. Waren unter ihm hundertfünfzig Meter Nichts und dann tödliches Glas, schrumpfte er auf magische Weise zu einem Faden zusammen.
Wären die beiden Wagas und das tote Mädchen nicht hinter ihr gewesen, wäre Tally vielleicht umgekehrt, lange bevor sie auch nur die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hätte. So aber quälte sie sich weiter, auch wenn jeder Schritt eine schiere Tortur war und zu allem Überfluß ihre Beine wieder zu schmerzen begannen. Sie brauchten eine Stunde, um das obere Ende der Treppe zu erreichen. Es gab hier oben einen zweiten, wenn auch sehr viel kleineren Balkon, ähnlich dem unten an der Ruine. Tally taumelte hinauf, entfernte sich noch ein paar Schritte von der Treppe und sank mit einem erschöpften Seufzen auf die Knie. Für einen Moment begann sich die Wüste vor ihren Augen zu drehen. Der Turm schien sich wie in einer grotesken Verneigung vor ihrer Leistung vorzubeugen und ebenso langsam wieder aufzurichten, und auf ihrer Zunge war plötzlich der bittere Geschmack warmer Kupferspäne. Für die Dauer von drei, vier raschen Herzschlägen blieb Tally reglos auf den Knien sitzen und rang nach Atem, ehe sie den Kopf hob und sich umsah. Im Westen begann die Nacht dünne schwarze Finger in den Himmel zu krallen, und der Wind war spürbar kühler geworden. Die Flanke des Turmes war wie eine schwarze Wand, die geradewegs in den Himmel hinaufführte.
Umnittelbar vor ihr war eine Tür. Sie bestand aus geschwärztem Eisen, das der Wind so glattpoliert hatte, daß sich ihre knieende Gestalt verzerrt darin widerspiegelte, und hatte ungewohnte Proportionen. Sie war nicht ganz geschlossen, so daß Tally erkannte, wie stark sie war. Das Metall war so dick wie ihr Oberarm.
Der Anblick ließ sie Erschöpfung und Schwäche vergessen. Sie stand auf, bedeutete Hrhon und Essk mit Gesten, dicht hinter ihr zu bleiben, und griff nervös nach der hemdartigen Waffe, die in ihrem Gürtel steckte. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie zu benutzen war oder ob sie in der Hand eines anderen Menschen als ihres rechtmäßigen Besitzers überhaupt funktionierte oder sich gar – wie es bei magischen Waffen nicht einmal so selten war – gegen sie wenden würde, aber die Berührung beruhigte sie ein wenig. Vorsichtig trat sie auf die Tür zu und streckte den Arm aus.
Die immense Masse hatte sie ein ebensolches Gewicht erwarten lassen, und sie griff kräftig zu. Aber die Tür bewegte sich nahezu schwerelos in ihren Angeln, und Tally verlor beinahe das Gleichgewicht, von ihrem eigenen Schwung nach hinten gerissen. Verwirrt blieb sie stehen, musterte die so seltsam gewichtslose Tür einen Moment unschlüssig und ordnete die Frage dem ohnehin nicht kleinen Reservoir ungelöster Rätsel in ihrem Gedächtnis bei. Es gab Wichtigeres zu ergründen als das Geheimnis einer Tür.
Sie hatte Dunkelheit erwartet, aber das Innere des Turmes – zumindest der winzige Ausschnitt, den sie erkennen konnte – war von mildem grünen Licht erfüllt, das ein bißchen mehr als Licht zu sein schien, denn Tally hatte ein schwer in Worte zu fassendes Empfinden von etwas Materiellem, in das sie eindrang, als sie durch die Tür schritt.
Ihr Herz hämmerte wie wild. Feiner, klebriger Schweiß bedeckte ihr Gesicht und ihre Handflächen. Jeder einzelne Nerv in ihr war bis zum Zerreißen gespannt. Ihre Augen waren weit und starr vor Anstrengung, den sonderbaren grünen Schimmer zu durchdringen. Tally war in diesem Moment nicht viel mehr als eine lebende Kampfmaschine, ein Ding aus fünfzehn Jahren aufgespartem Haß und hochtrainierten Reflexen. Ganz gleich, wer oder was ihr in diesem Moment gegenübergetreten wäre, er oder es hätte diese Begegnung mit dem Leben bezahlt.
Aber sie begegnete niemandem, und ihr erster Schritt in den Turm hinein war nichts als eine Enttäuschung. Tally hatte keine Vorstellung von dem gehabt, was sie antreffen würde – irgend etwas Gigantisches und Gefährliches vielleicht, und sicher etwas Magisches. Aber als sie nach wenigen Schritten stehenblieb und sich umsah, fand sie sich in einer nicht besonders großen, annähernd würfelförmigen Kammer, vollkommen leer bis auf das unheimliche, fließende Licht und mit einer knöcheltiefen Staubschicht auf dem Boden. Verwirrt, aber immer noch auf alle nur denkbaren bösen Überraschungen gefaßt, drehte sie sich einmal um ihre Achse und sah sich genauer um, ohne indes mehr zu entdecken als beim ersten Mal. Die Kammer war leer. Das einzige, was sie identifizierte, war die Quelle des sonderbaren Lichtes: es waren die Wände und die Decke selbst, deren Stein die moosige Helligkeit ausstrahlte, wenn auch nicht überall. Hier und da gab es große, an Lepra erinnernde Flecken, an denen der Stein schwarz war, und auf dem Boden hatte der Staub das Leuchten erstickt.