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Während Tally sich noch umsah, kniete Essk nieder und untersuchte die Fußspuren, die der Staub akribisch konserviert hatte. Es waren die Spuren von menschlichen Füßen, aber auch die kleinerer, mit dürren drahtigen Klauen versehener Insektenbeine. Sie führten in gerader Linie zu einer von drei verschlossenen Türen in der gegenüberliegenden Wand, und es waren die einzigen Spuren überhaupt. Das Mädchen und die zwei – drei – Hornköpfe mußten die ersten gewesen sein, die diesen Ausgang seit sehr langer Zeit benutzt hatten. Nun, dachte Tally spöttisch, sehr oft kam es wahrscheinlich auch nicht vor, daß ungebetene Besucher den Todesschirm um den Turm durchbrachen und sich im Gesindehaus einnisteten.

Sie wollte weitergehen, aber Hrhon hielt sie mit einer knappen Geste zurück und eilte an ihr vorbei. Diesmal widersprach Tally nicht. Schweigend sah sie zu, wie der Waga die beiden Türen inspizierte, zu denen keine Spuren führten, und vergeblich an den massiven Eisenplatten rüttelte, ehe er sich schließlich dem dritten Durchgang zuwandte und ihn ohne sichtliche Mühe aufschob. Dahinter kam ein schmaler, von dem gleichen unheimlichen Licht erfüllter Gang zum Vorschein. Tallys Blick vermochte ihm nur ein knappes Dutzend Schritte zu folgen, denn er führte nicht nur leicht in die Höhe, sondern war auch sanft nach rechts gebogen, offenbar der Krümmung des Turmes folgend. Wenn zwischen ihm und der äußeren Begrenzung des Turmes nicht ein Hohlraum oder weitere, verborgene Räume lagen, dachte Tally, dann mußten die Wände des Turmes von einer enormen Dicke sein.

Abermals gebot sie Hrhon zurückzubleiben, trat mit klopfendem Herzen durch die Tür und in den Gang hinaus. Ein ganz leises Raunen trat an ihr Ohr, wie das Geräusch von Wind, aber unendlich weit entfernt, und diesmal war sie sich nicht ganz sicher, ob sie sich das Zittern des Bodens unter ihren Füßen wirklich nur einbildete.

Vor ihrem inneren Auge entstanden Visionen von aufschnappenden Falltüren, unter denen bodenlose Abgründe lauerten. Sie versuchte sie dorthin zurückzuscheuchen, wo sie hergekommen waren, nahm die Hand von der fremden Waffe und zog statt dessen ihren Dolch aus dem Gürtel – ein Zahnstocher gegen einen Drachen. Trotzdem fühlte sie sich spürbar wohler, als sie das glatte Eisen des Dolchgriffes in der Hand spürte.

5

Der Weg nahm kein Ende. Tally verlor ihr Zeitgefühl, irgendwo in einem der endlosen, nur ganz sanft gekrümmten und fast unmerklich ansteigenden Gänge. Sie wußte nicht mehr zu sagen, ob es eine Stunde war, wenige Augenblicke, oder eine Ewigkeit, die sie durch den Turm gingen. Das dumpfe Rauschen und Brausen begleitete sie, und manchmal glaubte sie einen leisen, aber sehr mächtigen Rhythmus in diesem Geräusch zu erkennen. In diesen Augenblicken erinnerte es sie an Atemzüge, an das sehr langsame, mächtige Atmen von irgend etwas Gigantischem.

Natürlich war es nicht da. Der Gang war leer, nur von Staub und dem sonderbaren leuchtenden Bewuchs erfüllt. Die Wände strömten einen unangenehmen Geruch aus, und die Luft schmeckte nach altem Eisen. Alle vier-, fünfhundert Schritte gelangten sie an eine Tür, als hätten die Erbauer dieses gewaltigen Turmes aus irgendeinem Grund dafür sorgen wollen, den Gang in möglichst viele voneinander unabhängige kleine Sektionen zu unterteilen.

Es gab auch noch andere Türen, die ausnahmslos auf der linken Stollenseite lange und offensichtlich in Räume hineinführten, die in die Wände des Turmes eingelassen waren, wie Luftblasen in Bernstein. Aber sie waren ausnahmslos verschlossen, und Tally schüttelte hastig den Kopf, als Hrhon sich erbot, eine davon aufzubrechen. Sie waren Eindringlinge und keine willkommenen Gäste. Vielleicht war es besser, wenn sie nicht mehr Lärm machten, als unbedingt nötig war.

Dann fanden sie die zweite Tote.

Sie waren durch eine weitere Tür getreten, wie immer Hrhon als erster, gefolgt von Tally und Essk, die den Abschluß bildete, aber statt des erwarteten Schneckenganges erhob sich vor ihnen eine schier endlose, sehr steil in die Höhe führende Treppe.

Auf den untersten Stufen lag eine Frau.

Tally fuhr überrascht zusammen und wollte sich an Hrhron vorbeidrängen, aber der Waga schob sie einfach zurück, zischelte irgend etwas, das Tally nicht verstand, und war mit zwei, drei überraschend gehenden Schritten bei der reglosen Gestalt, um sie rasch, aber sehr gründlich zu untersuchen – etwas, das ganz und gar überflüssig war, wie Tally befand. Wenn sie jemals eine Tote gesehen hatte, dann diese. Trotzdem wartete sie geduldig, bis Hrhon sich mit einem zufriedenen Zischeln aufrichtete und ihr mit Gesten zu verstehen gab, daß keine Gefahr mehr bestand.

Ihr Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen, als sie selbst neben der Toten niederkniete. Die Frau war wesentlich älter als das tote Mädchen draußen auf der Brücke, alt genug, um ihre Mutter sein zu können. Ihr Haar, das sehr kurz geschnitten war, begann bereits grau zu werden, und ihr im Tode bleich gewordenes Gesicht war von tiefen Linien durchzogen, ohne dadurch direkt häßlich zu wirken. In ihren erloschenen Augen schien noch ein Ausdruck ungläubigen Schreckens zu stehen. Ihre rechte Hand umklammerte die gleiche sonderbar geformte Waffe, wie sie Tally bei der Toten draußen gesehen und an sich genommen hatte. Der Leichnam verströmte einen ganz sachten, aber unangenehmen Geruch. Unter dem Kopf war ein häßlicher braunroter Fleck, ebenso wie auf der Stufe darüber, und der nächsten und übernächsten.

Tallys Blick folgte der eingetrockneten Blutspur, bis sie sich im grünen Dunst des Ganges verlor. Es war nicht sehr schwer zu erraten, was geschehen war: die Frau und das junge Mädchen draußen hatten offensichtlich zusammengehört, aber während das Mädchen und die Hornköpfe herausgekommen waren, um nach den unwillkommenen Besuchern zu sehen, war diese Frau zurückgelaufen, um – ja, um was zu tun? dachte Tally. Instinktiv irrte ihr Blick zum oberen Ende der Treppe. Sie sah nur grünes Licht, in dem sich die Stufen wie in leuchtender Säure aufzulösen begannen. Nun, gleich wie – sie hatte es wohl ein wenig zu eilig gehabt, denn sie mußte auf der Treppe ausgeglitten sein und sich den Schädel eingeschlagen haben. Hätte es noch eines Beweises für diese Theorie bedurft, wäre es allein der Leichengeruch gewesen. Die Tote lag schon eine geraume Weile hier. Sie stand auf, winkte Essk, an ihre Seite zu treten und setzte den Fuß auf die erste Treppenstufe, aber wieder, hielt Hrhon sie zurück. »Vorssssicht«, zischelte er. »Esss können noch mehhhr da ssseinnn.«

»Unsinn«, sagte Tally unwillig. »Die beiden waren allein, Flachkopf! Wäre es anders, wären wir wohl kaum noch am Leben, oder?«

Hrhon widersprach nicht, aber Tally wußte selbst, daß ihre Worte wohl mehr ihrer eigenen Beruhigung galten. Der Gedankengang mochte durchaus logisch sein – aber was war Logik in dieser Welt, die zur Hälfte von einem willkürlichen Schicksal und zur anderen Hälfte von Zauberei bestimmt wurde? Sie hatten keinerlei Beweise, daß am oberen Ende dieser Treppe nicht eine ganze Armee zangenbewehrter Hornköpfe auf sie wartete. Oder Schlimmeres. Aber es gab auch nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.

»Dann lassst mich wenigssstensss vorausssgehennn«, sagte Hrhon.

Tally dachte einen Moment ernsthaft über seinen Vorschlag nach. Der Gedanke, einen lebenden Schutzschild aus Panzerplatten und Knochen vor sich zu haben, war verlockend – der, unter vierhundert Pfund der gleichen Panzerplatten und Knochen begraben zu werden, sollte Hrhon angegriffen werden und stürzen, weniger.

Sie schüttelte den Kopf, scheuchte den Waga mit einer befehlenden Geste zur Seite und ging los.

Die Treppe schien endlos zu sein. Schon nach wenigen Augenblicken begannen ihr Ende und die Tote in grünem Dunst zu verschwinden, während die leuchtende Wand über Tally und den beiden Wagas im Tempo ihrer eigenen Schritte vor ihnen zurückwich. Es war ein unheimliches Gefühl, das Tally sehr nervös machte – sie sah nicht, wohin sie gingen, und in ihrem Kopf nistete sich der bösartige Gedanke ein, daß diese Treppe geradewegs in die Unendlichkeit führen würde und sie so lange laufen konnten, bis sie vor Erschöpfung und Durst einfach starben, ohne jemals irgendwo anzukommen.