Das dumpfe Brausen war noch immer zu hören, und der Luftzug war zum Sturm angewachsen, der mit ihrem Haar spielte und sie blinzeln ließ, als sie hineinsah. Wie in allen Räumen, die sie bisher durchquert hatte, gab es auch hier eine zweite Tür, genau in der gegenüberliegenden Seite; Tally vermutete, daß die Kammer auf die gleiche Weise wie der Schneckenhausgang angeordnet waren, nicht wie die Räume eines Hauses in willkürlicher Unordnung, sondern immer eine hinter der anderen, so daß eine Fortsetzung der nach oben führenden Spirale entstand. Aber sehr weit konnte sie nicht mehr führen, denn wenn ihr Zeitgefühl auch längst durcheinandergeraten war, so wußte sie doch, daß sie die Spitze der steinernen Riesennadel fast erreicht haben mußten. Der Wind leitete sie, als sie den Raum durchquerte. Das Zimmer dahinter ähnelte dem ersten, nur daß es ein wenig unordentlicher war und einer der beiden Frauen als Schlafgemach gedient haben mußte, denn es gab ein großes, mit Seide bezogenes Bett und einen niedrigen Schrank, dessen Türen offen standen, so daß sie erkennen konnte, daß er Kleider enthielt. Aber der Windzug kam nun nicht mehr von vorne, obgleich es dort eine weitere Tür gab, sondern bauschte einen schweren blauen Samtvorhang, der den größten Teil der rechts liegenden Wand einnahm.
Tally runzelte verwundert die Stirn. Wenn sie nun nicht auch noch ihr Orientierungsvermögen verloren hatte, dann führte der Weg nach rechts tiefer in den Turm hinein – wo um alles in der Welt kam dieser Sturmwind her?
Sie hob die Hand, um den Vorhang kurzerhand herunter zu reißen, besann sich dann aber eines Besseren und schob ihn beinahe vorsichtig zur Seite.
Grelles Sonnenlicht blendete sie. Sie hob die Hand, blinzelte, senkte ein wenig den Kopf und trat mit einem raschen Schritt vollends durch den Vorhang hindurch. Der Sturm schlug mit eisigen Krallen auf ihr Gesicht ein und trieb ihr die Tränen in die Augen. Das Rauschen des Windes steigerte sich zu einem ungeheuren Toben und Lärmen. Unter ihren Füßen war plötzlich kein Teppich mehr, sondern wieder harter, ganz sacht vibrierender schwarzer Stein. Wenige Schritte vor ihr erhob sich eine schmiedeeiserne Brüstung. Tally begriff plötzlich, daß sie sich nicht mehr auf festem Boden, sondern auf einem schmalen Balkon befand.
Und darunter gähnte das Nichts.
Vielleicht war es ganz gut, daß ihr die ungewohnte Helligkeit im ersten Moment die Tränen in die Augen trieb, denn so blieb ihr ein wenig Zeit, sich an den unglaublichen Anblick zu gewöhnen. Trotzdem dauerte es lange, bis sie wirklich begriff.
Sie befand sich dicht unterhalb der Turmspitze, und sie konnte dies mit solcher Sicherheit sagen, weil es diese Spitze nicht gab: vielleicht fünfzig Meter über ihr hörte der Turm einfach auf, einer ungleichmäßigen, schrägen Linie folgend, die bewies, daß dieses Ende nicht so gebaut, sondern gewaltsam abgebrochen war. Das grelle Licht der Wüstensonne strömte ungehindert in den Turm, und was es enthüllte, ließ Tallys Atem stocken, und nicht nur im übertragenem, sondern im höchst realen Sinne des Wortes.
Der Turm war leer, und im Grunde war er nicht viel mehr als eine gewaltige, sich nach oben hin verjüngende Röhre, eine Meile hoch und dreimal so tief in die Erde hinabreichend, ehe sie sich im Dunst der Entfernung verlor. Der Balkon, auf dem sie stand, gehörte zu einem ungleichmäßig geformten, steinernen Wulst, der wie ein Schwalbennest an ihre innere Wandung geklebt war und sich auch noch ein Stück nach oben hin fortsetzte, ehe er in einem Wust von zermalmtem, halb geschmolzenem Stein endete.
Tallys Gedanken überschlugen sich. Sie verstand nicht, was sie sah, und noch viel weniger verstand sie, welchen Sinn dieses unglaubliche Ding um alles in der Welt haben sollte. Ein Gefühl dumpfer Enttäuschung begann in ihr zu erwachen und wurde allmählich stärker. Sollte sie wirklich die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens einzig dazu geopfert haben, dies hier zu finden? Verstört sah sie nach rechts und links, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen, die ihr das Sonnenlicht hineingetrieben hatte, und trat näher an die eiserne Brüstung heran. Der Sturm zerrte mit Urgewalt an ihrem Haar und ihren Schultern, als sie sich darüber beugte und in die Tiefe sah, und im ersten Moment wurde ihr schwindelig; denn der Abgrund unter ihr war im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos. Ihr allererster Eindruck war richtig gewesen: der hohle Turm ragte tief, unendlich tief in den Wüstenboden hinein. Vielleicht war er auch nur der Zugang zu einer gewaltigen Höhle, die sich unter dem erstarrten Sandmeer der Gehran erstreckte. Aber sie verstand noch immer nicht, welchem Zweck er diente.
Tally schloß für einen Moment die Augen, versuchte an gar nichts zu denken und blickte noch einmal in die Tiefe.
Die Innenwand des Turmes war nicht so glatt, wie sie im ersten Moment geglaubt hatte – es gab zahllose unterschiedlich große und unterschiedlich geformte Auswüchse, und mehrere davon waren mit Balkonen der gleichen Art versehen wie dem, auf dem sie selbst stand. Zwischen ihnen spannten sich schwarze Lavawülste wie steinerne Adern – die Schneckenhausgänge, die in scheinbar willkürlichem Hin und Her nach oben und unten führten und sich hier und da berührten, sich aber nicht direkt zu kreuzen schienen; denn wo sie zusammentrafen, krochen sie wie steinerne Würme übereinander und bildeten manchmal dicke, irgendwie krankhaft wirkende Wülste. Wie Geschwüre auf der Innenseite einer ungeheuerlichen Ader, dachte Tally.
Überhaupt war dies von allem der stärkste Eindruck: obwohl sie den harten Stein unter ihren Füßen sah und stundenlang darübergeschritten war, wirkte nichts hier künstlich, nichts sah aus, als wäre es irgendwie gemacht worden. Das ganze gigantische Bauwerk wirkte wie gewachsen. Selbst die eiserne Brüstung, auf der sie lehnte, vermochte diesen Eindruck nicht zu stören. Aber was war es? Was...
Die Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb.
Es war, als träte sie ein zweites Mal auf den Balkon hinaus, aber diesmal mit offenen, sehenden Augen. Mit einem Male war alles ganz klar, ergab einen Sinn – den einzigen Sinn, den es überhaupt geben konnte. Und mit einem Male schien ihr jeder Quadratzentimeter ihrer Umgebung die Wahrheit entgegenzuschreien: dieser gigantische, leere Turm, selbst hier oben an seiner engsten Stelle noch Hunderte von Metern messend, die ungeheuerliche Tiefe, aus der ein Luftstrom wie ein nie endender Orkan emporbrauste, dieser einsamste aller Flecken, den es auf der Welt gab, der vielfach gestaffelte Todeskreis, der ihn umgab, dies alles konnte nur eine einzige Erklärung haben.
Und sie wußte sie, im gleichen Moment, in dem sie den Sturm, der aus der Erde emporbrauste, zum ersten Male bewußt wahrnahm. Und den Gestank, den er mit sich brachte.
Drachengestank.
6
Sie blieb länger als eine Stunde auf dem kleinen Balkon am Rande des Nichts stehen, ohne es überhaupt zu merken. Sie war wie gelähmt, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ihre Gedanken drehten sich im Kreise, immer und immer und immer wieder, ohne daß sie imstande war, ihren Fluß zu ändern, und sie wußte hinterher nicht mehr, was sie nun wirklich gedacht hatte, in all dieser Zeit. Tally konnte nicht in Worte fassen, was sie spürte, weil es etwas Neues war, etwas, wofür sie keine Worte hatte, eine Mischung zwischen Entsetzen und Schrecken und Erleichterung und Schmerz und anderen, fremden Gefühlen. Sie war enttäuscht, so enttäuscht und – ja: gedemütigt – wie niemals zuvor in ihrem Leben, und sie hatte allen Grund dazu. Sie fühlte sich wie ein Mensch, der das eigentlich Unmögliche vollbracht hatte, nur um festzustellen, daß es nichts war: sie hatte einen Berg erstiegen, der als unbesteigbar galt, und auf dem Gipfel angelangt erkannt, daß es in Wahrheit nichts als ein kleiner Hügel war, hinter dem sich das eigentliche Gebirge erhob.