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»Weine ruhig«, sagte er noch einmal. »Es wird dir helfen.«

Talianna weinte nicht.

Aber nach einer Weile wandte sie sich gehorsam um, dem sanften Druck seiner alten Hand folgend, und ging neben ihm her den Hang hinab, über die mit Asche bedeckte Wiese und auf die in den Boden eingeschmolzene Grenze der Stadt zu, ein blinder Mann und ein Kind, das ihn führte.

Aber in diesem Moment sah das Kind so wenig von dem Schrecken, der sich vor ihnen ausbreitete, wie er. Sie sah Drachenschwingen, die die Nacht peitschten.

2

Die Asche war noch warm, und der Boden darunter so heiß, daß sie es durch die dünnen Sohlen der Sandalen hindurch spüren konnte. Ihre Schritte ließen kleine graue Staubwölkchen wie winzige Explosionen hochwirbeln, und in der Luft lag ein Geruch, den das Mädchen niemals im Leben wieder vollkommen vergessen sollte. Sie hatte den am schlimmsten zerstörten Teil der Stadt umgangen, nicht aus Furcht oder Pietät, sondern einfach der praktischen Überlegung, daß der alte Mann an ihrer Seite auf dem zu spiegelglattem Glas erstarrten Boden unter der Asche ausgleiten und sich verletzen mochte, und jetzt hatten sie den Fluß erreicht. Sein Wasser war warm. Grauer Dampf stieg von seiner Oberfläche hoch und berührte ihr Gesicht mit der unangenehmen Klebrigkeit von Spinnweben. Hier und da schienen sich kleine Nester von Glut und Hitze unter seiner Oberfläche gehalten zu haben; denn an manchen Stellen kochte es regelrecht. Schwarze Schlieren tanzten auf den Wellen. Und manchmal trug die Strömung formlose, dunkle Brocken heran; ab und zu auch etwas Größeres, das sie nicht erkennen konnte und wollte.

»Wo sind wir?«

Gedelfis Stimme klang brüchig; so morsch wie die dünne Kruste, über die sie gingen, und ebenso in Gefahr, jeden Moment einzubrechen. Die Hand, die auf Taliannas Schulter lag, bewegte sich nicht, aber anders, als sie es gewohnt war, war ihr Griff beinahe schmerzhaft fest, nicht mehr leicht und freundlich.

So lange sie denken und laufen konnte, war es ihre Aufgabe gewesen, den blinden alten Mann zu führen, und die Berührung seiner rissigen Haut war ihr so vertraut, als wäre es ein Stück von ihr selbst. Aber immer war sein Griff sanft und irgendwie dankbar gewesen, weil sie es war, die ihn vor Schaden bewahrte und ihm die Augen ersetzte, die er nicht mehr hatte. Jetzt klammerte er sich an ihr fest; mit der verzweifelten Kraft eines Menschen, der wußte, daß er in einen Abgrund stürzen mußte, wenn er seinen Halt losließ. Es tat weh.

»Wo sind wir, Talianna?« fragte Gedelfi noch einmal, als sie nicht antwortete.

»Am Fluß«, sagte sie hastig. »Am...« Sie stockte, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich rissig und heiß waren und schmerzten, und begann von neuem. »An der Stelle, an der das Waschhaus stand.«

»Ist es zerstört?«

Talianna schüttelte den Kopf. Ihr Haar glitt dabei über den Handrücken des Alten, so daß er die Bewegung spürte. »Nein«, sagte sie. »Es ist fort.«

»Fort.« Gedelfi wiederholte das Wort mit dem sonderbaren Schmatzlaut, mit dem alte Menschen manchmal reden. Aber es war eher, als prüfe er seinen Geschmack.

»Fort.«

Talianna nickte. Das Waschhaus, halb auf dürren Stelzbeinen in den Fluß gebaut, so daß sich die Frauen auf seinen durchbrochenen Boden knien und ihre Wäsche waschen konnten, war eines der wenigen nicht aus Stein erbauten Häuser Stahldorfs gewesen, und so waren nicht einmal Ruinen geblieben. In der warmen Asche am Ufer waren noch die Schemen seines Grundrisses zu erkennen, und dicht unter den sprudelnden Fluten standen die abgesenkten Stümpfe seiner Stützen, aber das war alles. Der Feuersturm mußte es pulverisiert haben; vielleicht hatte er es wie ein trockenes Blatt zur Gänze angehoben und in der Luft zerrissen; vielleicht war es auch einfach in den Fluß gestürzt und davongeschwemmt worden. Es blieb sich gleich.

Talianna verstand für einen Moment selbst nicht, warum sie das Schicksal dieser unbedeutenden Bretterbude so interessierte, bis sie begriff, daß da wohl irgend etwas in ihrem Bewußtsein war, was nicht wollte, daß sie darüber nachdachte, was mit dem Rest der Stadt geschehen war. Wäre sie allein gewesen, hätte sie wohl spätestens an dieser Stelle kehrt gemacht und die Stadt verlassen.

Aber sie war nicht allein. Gedelfi, dessen Auge sie war, war bei ihr, und hinter sich hörte sie die Schritte und Stimmen der anderen, die nach und nach den Hügel herabgekommen waren. Den Blinden und sie mitgerechnet, waren sie elf, die sich in dem aufgelassenen Minenschacht verkrochen hatten, als der Feuerregen begann, elf von mehr als dreitausend. Ein jämmerlicher Haufen Verlorener, zu dem nicht einmal mehr das Wort Überlebende gepaßt hätte. Überleben bedeutet Weiterleben, und Weiterleben hieß vielleicht Hoffnung und ein neuer Anfang – oder wenigstens den Versuch dazu. Nichts von alledem war ihnen geblieben. Sie lebten, das war alles.

Erneut wunderte sich Talianna über sich selbst, über die Gedanken, die plötzlich in ihrem Kopf waren und die sie noch vor wenigen Stunden nicht einmal verstanden hätte. Und mit der gleichen sonderbaren Klarheit, mit der sie sie jetzt begriff, begriff sie plötzlich auch, daß sie in der endlosen schwarzen Feuernacht im Bauche der Erde mehr verloren hatte als ihre Heimat und ihre Familie. Der fliegende Tod hatte sie verschont, aber sein Feuer hatte ihr etwas genommen, was sie noch gar nicht gehabt hatte, jedenfalls nicht genug, und was sie nun auch nicht mehr haben würde.

Sie war noch immer zehn Jahre alt und noch immer ein wenig zu dünn und manchmal etwas linkisch in ihren Bewegungen und ihrer Art zu reden – aber sie war kein Kind mehr. Sie dachte an ihren Vater und ihre Mutter und Rosaro, ihren um zehn Jahre älteren Bruder, an ihr Haus, das nicht zu den prachtvollsten der Stadt gehört hatte, aber auch ganz und gar nicht zu den kleinsten, an ihre Freunde und Spielkameraden, und sie empfand – nichts.

Voller Schrecken begriff sie, daß sie ihre Fähigkeit zu trauern verloren hatte. Der Anblick der geschändeten Stadt erfüllte sie mit Entsetzen, aber es war ein Schrecken, der eher dem Erstaunen darüber entsprang, daß eine solch totale Zerstörung überhaupt möglich war. Wind kam auf und trug grauen Staub über den Fluß. Talianna hustete, hob die linke Hand vor das Gesicht und beschirmte damit ihre Augen. Den Staub vermochte sie auf diese Weise abzuwehren, den Brandgeruch und die furchtbare schmierige Wärme nicht. Plötzlich ekelte sie sich.

»Wie... sieht es aus?« sagte Gedelfi stockend. »Sag es mir, Talianna.«

Talianna gehorchte. Langsam, aber ohne zu stocken und mit überraschend klarer, fester Stimme beschrieb sie dem Blinden, was sie sah, jede noch so winzige Einzelheit; angefangen von der knöcheltiefen Staub- und Ascheschicht auf dem Boden über das verbrannte Mauerwerk, in das die Hitze bizarre Muster geätzt hatte, über die leeren Fenster und Türen, die wie ausgebrannte Augenhöhlen auf sie herabstarrten und die Straßen, die mit formlos zusammengeschmolzenen Dingen vollgestopft waren; das Wasser des Flusses, das jetzt schwarz war und brodelte und eine schreckliche Fracht mit sich trug, und die Brücke, die wie ein ausgestreckter Arm über den Fluß führte, erstaunlicherweise kaum beschädigt, bis zu der Stelle, an der sie zersplittert war, die geknickten Tragbalken und Streben gebrochenen Fingern gleich, die ins Leere griffen.

Gedelfi hörte schweigend zu. Nicht einmal sein Atem ging schneller, während Talianna ihm all die unbeschreiblichen Schrecknisse beschrieb, die sie sah, mit der klaren, präzisen Wortwahl einer Erwachsenen und der grausamen Detailfreude einer Zehnjährigen.

Erst, als sie zu Ende gekommen war und schwieg, löste sich die Hand des Blinden von ihrer Schulter, und wie sie es immer tat, wenn sie Gedelfis Berührung nicht mehr spürte, drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn an.

Sie erschrak. Gedelfis Gesicht war ausdruckslos, aber es war jene Art von Beherrschtheit, hinter der sich pures Entsetzen verbarg. Seine Hände zitterten ganz leicht. Mit einem Male kam er ihr alt vor, unendlich alt. Niemand hatte ihn jemals gefragt, wie alt er wirklich war – siebzig sicherlich, vielleicht aber auch achtzig Jahre oder mehr, und zum allerersten Male überhaupt begann Talianna zu ahnen, was diese Zahl wirklich bedeutete.