»Drüben, auf der anderen Seite des Flusses.« Talianna nickte. »Viele. Manche sind sehr tief.«
»Kannst du sie mir zeigen?« fragte Hraban, und fügte hinzu: »Später. Wenn du gegessen und dich ausgeruht hast.«
»Warum wollt ihr das alles wissen, Herr?« fragte Talianna.
Hraban lächelte. »Nun, wenn ihr überlebt habt, warum dann nicht auch andere? Wäre dir wohl bei dem Gedanken, daß sie jetzt vielleicht dort eingesperrt sind, möglicherweise so verschüttet, daß sie aus eigener Kraft nicht mehr herauskämen?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln und seufzte. »Na, das wird sich alles ergeben«, fuhr er fort. »Keine Angst mehr, Kleine. Meine Männer und ich sind hier, und wir werden nach den Überlebenden suchen.« Er stand auf. »Aber jetzt sorgen wir erst einmal dafür, daß du etwas Warmes zu Essen bekommst. Und der Wundscher wird sich deine Hände ansehen. Komm jetzt.« Damit wandte er sich um und ging zu den anderen zurück, und nach einer Weile folgte ihm Talianna.
5
Etwas später brachte Hraban sie zu Gedelfi zurück, und ganz wie er versprochen hatte, brachten einige seiner Männer zu Essen: trockenes Fladenbrot und gedörrtes Fleisch, das so zäh war, daß man es nur schneiden und in kleinen Stückchen kauen und dann ganz herunterschlucken konnte. Trotzdem kam es Talianna vor wie das Köstlichste, was sie jemals gegessen hatte; denn ihre letzte Mahlzeit lag einen Tag und zwei Nächte zurück. Auch die anderen machten sich gierig über die dargebotenen Lebensmittel her und tranken sogar von dem Wein, den ihnen Hrabans Männer reichten. Überhaupt legte sich das Mißtrauen Hrabans Leuten gegenüber merklich, vor allem, als die Söldner eine halbe Meile stromaufwärts ihr Lager aufzuschlagen begannen und kurz darauf ein kleiner, weißhaariger Mann zu ihnen kam, um nach ihren Wunden zu sehen und ihnen Medizin zu reichen. Mit Ausnahme Gedelfis war keiner unter ihnen, der nicht auf die eine oder andere Weise verletzt war, wenn auch nicht schwer. Aber auch ein abgebrochener Fingernagel konnte sich entzünden und zum Verlust der Hand oder gleich des daranhängenden Körpers führen, wenn er nicht behandelt wurde, wie der Wundscher lächelnd erklärte.
Während er und zwei schweigende Krieger aus Hrabans Begleitung sich um die Überlebenden kümmerten, waren die anderen nicht untätig. Talianna sah, wie sie in kleinen Gruppen ausschwärmten, um die Ruinen zu durchsuchen oder in den Wald eindrangen, den sie Hraban gezeigt hatte. Eine weitere, etwas größere Gruppe versuchte gar, über die Brücke zu gehen, gab das Vorhaben aber rasch auf, als die ausgeglühte Konstruktion schon unter dem Gewicht des ersten Mannes bedrohlich zu ächzen begann. Sie gingen zurück und verschwanden wieder in ihrem Lager, und kurze Zeit später hörte Talianna das dumpfe, regelmäßige Dröhnen von Hammerschlägen.
»Was ist das?« fragte Gedelfi. Er sah auf, legte den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment. Seit Talianna zurückgekommen und ihm berichtet hatte, was geschehen war, hatte er kein Wort gesagt. Hätte er sich nicht ab und zu schweigend bewegt oder beim Essen geschmatzt, hätte sie glatt vergessen, daß es ihn überhaupt noch gab.
Talianna blickte konzentriert zum Lager der Söldner hinüber, preßte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und strengte die Augen an. Sie war sich nicht ganz sicher. »Sie bauen etwas«, murmelte sie. »Ein Floß – glaube ich.«
»Ein Floß? Wozu?«
»Um über den Fluß zu kommen, alter Mann.«
Talianna fuhr erschrocken zusammen und herum, als sie Hrabans Stimme hörte. Der Krieger war so lautlos nähergekommen, daß sie ihn bis jetzt nicht einmal bemerkt hatte. »Die Brücke ist zerstört. Siehst du das denn nicht?«
Gedelfi – der anders als Talianna nicht die geringste Spur von Schrecken oder auch nur Überraschung zeigte – wandte betont langsam den Kopf und blickte zu Hraban hoch. Auf dem Gesicht des Söldners erschien ein betroffener Ausdruck, als er die matt gewordenen Augen Gedelfis sah.
»Du bist blind«, murmelte er. »Das wußte ich nicht. Ich habe meinen Leuten Befehl gegeben, über den Fluß zu setzen und drüben in den Wäldern nach Überlebenden zu suchen. Vielleicht gibt es Verletzte, unten in den Minen, von denen das Mädchen erzählte.« Er setzte sich zu ihnen, beugte sich vor und schnitt einen schmalen Streifen Dörrfleisch ab, um darauf herumzukauen, aber sicher nicht aus Hunger.
»Wie geht es dir, Kind?« fragte er, wieder an Talianna gewandt. »Besser?«
Talianna nickte. »Danke. Das... Essen war sehr gut. Ich hatte Hunger.«
Hraban lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht, hob die Hand und zerstrubbelte ihr das Haar. »Du kannst noch mehr bekommen, wenn du willst«, sagte er. »Es schmeckt vielleicht nicht so gut wie das, was ihr gekocht habt, aber es macht satt und stark.«
Gedelfi blickte Hraban aus seinen erloschenen Augen an. Seine Hände begannen mit einer Falte seines Gewandes zu spielen. »Ist das der Mann, von dem du erzählt hast, Talianna?« fragte er.
»Das bin ich«, antwortete Hraban an Taliannas Stelle.
»Was hat sie denn erzählt?«
»Daß Männer gekommen sind, die uns helfen wollen«, antwortete Gedelfi. »Aber ich weiß, wer ihr wirklich seid.«
»So?« Hraban lächelte noch immer, aber es war ein anderes Lächeln. Irgend etwas darin war erloschen, und dafür war etwas Anderes, Lauerndes, hinzugekommen.
»Weißt du das, alter Mann? Wer glaubst du, wer wir sind?«
»Ihr bringt den Tod«, sagte Gedelfi ernst. »Das weiß ich.«
Hraban lächelte noch immer, aber jetzt sah es wirklich gequält aus. Er widersprach dem Blinden nicht, aber er warf Talianna einen raschen Blick zu, der nimm-es-ihmnicht-übel-was-geschehen-ist-war-zuviel-für-ihn sagte. Laut antwortete er: »Im Moment bringen wir euch nur Essen und unseren Wundscher, Alter. Und später bringen wir euch von hier fort.«
»Wohin?« fragte Talianna. Der Gedanke, von hier fortgehen zu sollen, erschreckte sie. Andererseits – was sollte sie noch hier? All ihre Leute waren tot, und es gab nichts mehr, was sie wieder aufbauen konnten, schon gar nicht für ein zehnjähriges Mädchen und einen blinden Mann.
Hraban zuckte mit den Achseln und warf das angelutschte Stück Fleisch in die Flammen. »Wir werden sehen«, sagte er. »Mit uns kommen könnt ihr nicht, aber irgendwo bringen wir euch schon unter. In einer anderen Stadt.« Abermals zuckte er mit den Achseln, dann stand er auf, wischte die Hände an einem Zipfel seines schwarzen Bärenfell-Umhanges sauber und sah Talianna erwartungsvoll an. »Willst du unser Lager sehen?«
Talianna wollte ganz eindeutig. Nachdem sie ihre Furcht verloren hatte, hatten die zum Teil bizarren Gestalten in Hrabans Begleitung rasch ihre Neugier erweckt. Aber sie zögerte trotzdem, zu nicken.
»Geh ruhig, Talianna«, sagte Gedelfi, der ihr Schweigen richtig deutete. »Ich bin sicher hier. Und die anderen sind ja auch noch da.«
Talianna sprang auf und eilte an Hrabans Seite. Sie ließ es sogar zu, daß er sie bei der Hand nahm und neben sich herführte, obgleich ihr eine solche Behandlung unter normalen Umständen als viel zu kindlich vorgekommen wäre.
»Wer ist dieser alte Mann?« erkundigte sich Hraban, während sie am Ufer entlang auf das Lager zugingen.
»Dein Großvater?«
Talianna verneinte. »Er ist kein Verwandter«, sagte sie.
»Wir sind...« Sie suchte einen Moment nach dem richtigen Wort und fand es nicht. »Er ist blind, wißt Ihr?« setzte sie schließlich von neuem an. »Und ich führe ihn. Ich sage ihm, was ich sehe, und er erzählt mir dafür Geschichten. Manchmal«, fügte sie hinzu.
Tatsächlich war es sicherlich ein Jahr her, wenn nicht länger, daß Gedelfi ihr das letzte Mal eine Geschichte erzählt hatte. Sie mochte seine Geschichten, auch wenn sie meistens düster waren und keinen guten Ausgang hatten. Früher einmal war Gedelfi bei allen Kindern und auch so manchen Erwachsenen – seiner Geschichten wegen sehr beliebt gewesen. Aber seit einer Weile erzählte er nichts mehr, und wenn Talianna es recht bedachte, war das nicht alles. Gedelfi war sonderbar geworden, in den letzten Monaten. Vielleicht, dachte sie, begann er allmählich wirklich alt zu werden.