Dann begannen das Ungeheuer und der von Menschenhand geschaffene Vogel gleichzeitig in die Tiefe zu rasen. Tally sah nicht, wer das tödliche Rennen gewann. Der Wald sprang auf sie zu, schnell, viel zu schnell, war ihr letzter Gedanke... Dann traf eine Riesenfaust den Gleiter und zerschmetterte ihn in der Luft.
2
Es war noch immer Nacht, als sie erwachte. Zumindest war es dunkel. Die verrücktesten Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Erleichterung, noch am Leben zu sein, fast unmittelbar gefolgt von der durch und durch realen Angst, daß es vielleicht gar nicht so wäre und die Schwärze, in der sie sich wiederfand, die des Todes sei. Dann spürte sie Schmerz: einen betäubenden Druck auf ihre gesamte rechte Körperhälfte und den Geschmack von Blut im Mund. Sie war also noch am Leben. Tote spüren keinen Schmerz – wenigstens hoffte sie es.
Sie glaubte Bilder zu sehen, völlig absurde Bilder, die trotzdem etwas erschreckend Reales hatten: sie sah einen brennenden Himmel, aus dem brennende Dinge stürzten: ein Drache, ein zweiter, hölzerner Vogel, dann ihr eigenes Gesicht, ins Absurde vergrößert, Flammen in den Augen. Eine Stimme rief ihren Namen. Wellers Stimme.
Sie stöhnte. Der Schmerz in ihrer Seite wurde stärker. Plötzlich hatte sie Angst, blind zu sein, denn sie sah noch immer nichts, obwohl sie die Augen weit aufgerissen hatte. Über ihr war nicht einfach nur Dunkelheit, sondern absolute Schwärze, eine Dunkelheit, die tiefer zu sein schien als die bloße Abwesenheit von Licht. Stöhnend hob sie die Hand, tastete über ihr Gesicht und stellte fest, daß dort weder ein Verband noch sonst etwas war, was sie am Sehen hinderte.
»Keine Sorge, Tally. Du bist nicht blind. Es ist so dunkel hier.«
Die Stimme war dicht neben ihrem linken Ohr, und nach kurzem Nachdenken erkannte sie sie auch. Sie gehörte Karan. Aber etwas war mit ihrem Kopf nicht in Ordnung. Jetzt, als sie es versuchte, spürte sie, wie schwer es ihr fiel, sich zu erinnern. Nicht unmöglich, aber sehr schwer. Es gelang ihr nicht, zu Karans Stimme und Namen das passende Gesicht zu assoziieren. Als sie es versuchte, sah sie nur Flammen.
»Karan...?« murmelte sie. Ihre eigene Stimme klang fremd. Gedämpft und ohne die fast unhörbaren Echos, die ihren Klang sonst begleiteten; ganz gleich, wo man war. Es war, als spräche sie in eine Mauer aus Watte hinein. Umständlich versuchte sie sich aufzusetzen, spürte, wie der Boden unter ihr zu zittern begann und ließ sich hastig wieder zurücksinken.
»Karan?« wiederholte sie. »Bist du auch da?«
»Karan ist hier«, antwortete Karan. »Und auch dein Waga.«
»Hrhon? Bist du verletzt?«
»Nhissst ssslimm«, zischelte der Waga. »Nhur ein paar Krassser.«
»Gut.« Tally empfand eine rasche, heftige Erleichterung. Dann fiel ihr wieder ein, was Karan gesagt hatte.
»Kannst du Gedanken lesen?« fragte sie.
Karan lachte leise. »Nein. Aber die anderen haben Karan die gleiche Frage gestellt, als sie erwachten. Und auch er selbst, als er das erste Mal hier war. Keine Sorge. In einer Stunde geht die Sonne auf. Dann wirst du sehen.«
Tally stöhnte. Der Blutgeschmack in ihrem Mund wurde stärker. Vorsichtig tastete sie mit der Zungenspitze nach seiner Quelle und spürte einen jähen, stechenden Schmerz. Einer ihrer Backenzähne fehlte. Ihr Gesicht fühlte sich geschwollen an.
»Was ist geschehen?« murmelte sie. Die Schwärze über ihr begann sich zu drehen. Ihr wurde übel. »Wo sind die anderen? Wo zum Teufel sind wir?«
»Geschehen ist, was Karan prophezeite«, antwortete Karan. »Der Gleiter war zu schwer. Er ist abgestürzt, ohne daß Karan etwas dagegen tun konnte.« Er seufzte. Irgendwie, fand Tally, klang es wie ein Lachen. »Und du bist, wohin Karan dich bringen sollte. Im Schlund. Du wirst es bereuen«, fügte er hinzu.
Tally ignorierte den letzten Teil seiner Antwort. Ganz vorsichtig drehte sie sich in die Richtung, aus der seine Stimme kam, tastete mit den Fingerspitzen über den Boden und fühlte federnden, feuchtwarmen Widerstand. Aus einem Grund, den Tally selbst nicht in Worte zu fassen vermochte, fühlte er sich unangenehm an. Weich und pelzig, fast, als läge sie auf dem Rücken einer gigantischen Spinne. Trotzdem gelang es ihr diesmal, sich in eine halb sitzende Lage hochzustemmen, als sie es versuchte. Es war sehr warm. Die Luft roch... sonderbar. Nach Wald und Leben und noch etwas, das sie nicht kannte. Aber was immer es war, es machte ihr Angst.
»Der Drache«, murmelte sie. »Was ist mit ihm?«
Karan antwortete nicht. Es war auch nicht nötig, denn im Grund war ihre Frage überflüssig gewesen. Sie hatten alle gesehen, wie er abgestürzt war.
»Wieso ist es so dunkel?« fragte sie nervös.
Karan bewegte sich irgendwo in der Dunkelheit links neben ihr. Sie konnte ihn nicht sehen, aber die Geräusche verrieten ihr, daß er sich wie sie aufsetzte und den Arm hob, wie um eine weit ausgreifende Bewegung zu machen. Die Geräusche waren so deutlich, daß sie für einen Moment fast glaubte, ihn sehen zu können.
»Du bist im Schlund«, sagte er, als wäre dies Antwort genug. »Der Gleiter hat den Wipfel durchbrochen und ist gestürzt. Karan fürchtet, sehr tief.« Tally hörte das Schaudern in seiner Stimme. »Vielleicht bis zu seinem Grund.«
»Da wollte ich doch hin, oder?« fragte sie.
»Nein«, antwortete Karan. »Dorthin wolltest du nicht. Aber Karan weiß nicht, ob es wirklich so ist. Die Dunkelheit macht ihm Sorgen.«
»Und wieso?« Tally versuchte sich zu bewegen. Sofort begann der Boden unter ihr stärker zu zittern. Sie erstarrte wieder.
»Du solltest nicht reden«, sagte Karan ernst. – »Der Schlund hat Bewohner, die gute Augen haben, aber schlechte Ohren. Und solche, die schlechte Augen haben, aber scharfe Ohren. Der Aufprall des Gleiters hat alles Leben verjagt, aber es kann wiederkommen.«
»Und die anderen?« fragte Tally, Karans Warnung bewußt ignorierend. »Was ist mit ihnen?«
»Weller ist tot«, antwortete Karan. In seiner Stimme war nicht die geringste Spur von Mitleid. »Und auch Karan und du und Angella werden sterben. Der Waga mag eine Chance haben. Er ist stark.«
»Tot?« murmelte Tally. »Weller – tot?« Aber das war unmöglich! Sie hatte seine Stimme gehört!
»Er muß es sein«, antwortete Karan. »Er wurde aus dem Gleiter geschleudert, als er zerbrach. Du, Angella und der Waga und Karan selbst hatten Glück, aber er fiel hinaus. Wenn der Sturz ihn nicht getötet hat, so wird er sterben, ehe es hell ist.«
»Dann hast du nicht gesehen, wie er starb?« vergewisserte sich Tally. Sie empfand eine absurde Erleichterung. Wahrscheinlich war es kindisch – aber solange sie Wellers Leiche nicht mit eigenen Augen sah, konnte sie sich wenigsten einreden, daß er noch am Leben war. Plötzlich spürte sie, daß sie Weller mehr mochte, als sie bisher zuzugeben bereit gewesen war.
»Nein«, antwortete Karan. »Aber du kannst Karans Worten glauben – der Schlund tötet jeden, der zu tief in ihn eindringt. Auch uns.«
»Wenn der Kerl nicht bald aufhört, vom Tod zu reden, nehme ich seinem verdammten Schlund die Arbeit ab«, mischte sich eine Stimme aus der Dunkelheit heraus ein, Tally sah auf und versuchte die Richtung zu erkennen, aus der Angellas Stimme gekommen war. Es gelang ihr nicht. Die sonderbare, schallschluckende Akustik ihrer Umgebung machte es fast unmöglich, irgendeine Richtung zu bestimmen.
»Angella?« fragte sie.
Ein spöttisches Lachen antwortete ihr. »Wer denn sonst? Erwartest du noch Gäste?«
»Ihr solltet still sein«, sagte Karan noch einmal. »Es ist nicht gut, hier zu viel zu reden.«
»Ach, halt das Maul«, sagte Angella grob. »Verrat uns lieber, was das hier ist.« Tally hörte Geräusche, noch immer, ohne ihre genaue Quelle bestimmen zu können, aber mit einem Male war Angellas Stimme sehr viel näher. Dann hatte sie das intensive Gefühl eines Körpers, der dicht hinter ihr war. Es war erstaunlich, dachte sie, wie rasch andere Sinne einsprangen, wenn einer ausfiel.