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»Von anderen Wesen«, antwortete Karan. »Solchen, die Menschen sehr wohl fressen. Und die gute Ohren haben.«

»Oh«, sagte Tally noch einmal. Und das war das letzte Wort, das sie oder einer der anderen für eine geraume Weile sprach.

Trotzdem wurde es nicht still. Das Splittern und Bersten des Läufers war noch lange zu hören, und auch der Wald war nicht still – über ihnen, in den unsichtbaren Wipfeln, rauschte der Wind, und auch aus der Tiefe drang ein gedämpftes, unablässiges Murmeln und Flüstern zu ihnen herauf... Es war ein unheimlicher, angstmachender Laut. Wenn Tally lange genug hinhörte, dann glaubte sie fast so etwas wie ein wirkliches Flüstern darin zu erkennen. Eine Stimme, die ihr auf entsetzliche Weise gleichermaßen fremd wie sehr vertraut erschien – und die ihren Namen zu flüstern schien.

Natürlich war das Unsinn, wie sie sehr wohl wußte. Es war nur ihre eigene Angst, die sie Dinge hören ließ, die nicht da waren. Sie verscheuchte die Vorstellung endgültig, zog die Knie an den Körper und unterdrückte ein Schaudern. Ihr war kalt, obwohl der sonderbar weiche Boden unter ihr eine angenehme Wärme ausstrahlte. Fast, ohne es selbst zu merken, rutschte sie ein Stückchen näher an Angella heran, bis ihre Schulter deren Brust berührte.

Angella lachte leise. »Angst, Liebling?«

»Ja«, gestand Tally. Die Verärgerung, mit der sie Angellas Worte erfüllen sollten, kam nicht. »Du etwa nicht?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Angella. »Noch nicht.« Sie seufzte. »Ich glaube, ich sollte Angst haben. Aber ich habe mich noch nicht entschieden, vor wem ich mehr Angst habe – vor dem Schlund oder dir.«

»Ich bin nicht dein Feind«, antwortete Tally. »Wäre es nach mir gegangen, hätten wir keinen Streit.«

»Manchmal kommt es eben anders«, sagte Angella achselzuckend. »Nicht? Du bist eine gefährliche Frau, Tally. Und du hast noch gefährlichere Feinde.« Tally spürte, wie sie den Kopf schüttelte. Sie seufzte. »Woher kennst du Jandhi?«

»Ich kenne sie nicht«, erwiderte Tally.

»Dann frage ich mich, warum sie so scharf darauf war, dich mitzunehmen.«

»Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem du mich töten wolltest?» schlug Tally vor.

Angella lachte erneut, aber es klang nicht sehr amüsiert. »Wohl kaum.«

»Es tut mir leid, daß ich dich da mit hineingezogen habe«, sagte Tally unvermittelt. Im ersten Moment wußte sie selbst nicht, warum sie es tat – aber irgendwie erschien es ihr mit einem Male wichtig, Angella dies zu sagen. Und es war ehrlich gemeint.

»Hineingezogen ist wohl der richtige Ausdruck«, sagte Angella amüsiert. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber mach' dir nichts draus. Ich lebe noch, oder? Und ich habe mir schon lange einmal gewünscht hierherzukommen.«

»Du wirst nie wieder nach Schelfheim zurück können«, sagte Tally. »Selbst nicht, wenn wir das hier überleben sollten.«

»Das macht nichts«, erwiderte Angella. »Das Leben dort begann sowieso allmählich langweilig zu werden. Früher oder später hätte mich Jandhi wahrscheinlich erledigen lassen. Sie duldet niemanden in ihrer Stadt, der zu mächtig ist. Warum ist sie hinter dir her?«

Die Frage kam so schnell und in so beiläufigem Ton, daß Tally um ein Haar ganz automatisch geantwortet hätte.

»Das... ist eine lange Geschichte«, sagte sie ausweichend.

»Wir haben viel Zeit.«

Tally schwieg, und Angella besaß genug Gespür, die Frage kein zweites Mal zu stellen.

Sie versanken wieder in dumpfes Schweigen, das nur dann und wann unterbrochen wurde, wenn sich einer von ihnen bewegte. Sie alle sehnten den Tag herbei, aber als er dann kam, war er vor allem eine Enttäuschung.

Was Tally sah, war fremdartig und bizarr und erschreckend, aber es war nichts von alledem, was sie erwartet hatte. Es war im Grunde überhaupt nichts: ein verwaschenes Konglomerat blasser Farben und nur angedeuteter Umrisse, in das ein winziger Ausschnitt der Welt eingebettet war. Vielleicht, überlegte sie, war es mit dem Schlund wie mit vielen wirklichen großen Geheimnissen – sie verloren ihren Zauber, wenn man sie lüftete.

Die Dämmerung kam sehr schnell, aber sie nahm kein Ende, und kurz darauf begann es zu regnen: zwei Dinge, die Tally kannte, die aber hier unten, fünf Meilen näher an der Hölle, eine völlig neue Bedeutung bekamen. Die absolute Finsternis, in der Tally erwacht war, wich einem sonderbaren, graugrünen Halblicht, das nur Dinge genau erkennen ließ, die nicht mehr zwei oder drei Meter entfernt lagen. Alles Dahinterliegende war verschwommen, große finstere Umrisse mit halb aufgelösten Konturen, unwirklich und drohend zugleich. Und auch der Regen, der fast gleichzeitig mit dem Tag begann, war sonderbar: fein wie sprühender Nebel und so warm, daß Tally seine Berührung kaum spürte, ehe sie bis auf die Haut durchnäßt war. Zusammen mit dem unwirklichen graugrünen Licht gab er ihr das Gefühl, sich unter Wasser zu befinden.

Mit einer müden Bewegung strich sie sich eine Strähne ihres naß gewordenen Haares aus dem Gesicht, drehte sich halb herum und sah Karan an. Er hockte nur wenige Meter neben ihr, halb gegen den Stamm eines Baumes gelehnt, der so absurd groß war, daß Tally erst gar nicht versuchte, seinen Umfang zu schätzen. Trotzdem konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen. Es war nur ein hellerer Schatten in dem wogenden Etwas, in dem sich die Wirklichkeit aufzulösen begann. Er war verletzt, aber das waren sie alle – Kratzer, die jeder für sich genommen nicht gefährlich waren, aber an ihren Kräften zehren würden.

»Wann können wir weiter?« fragte sie.

Karan schrak sichtlich zusammen, und auch Angella, die ein Stück neben ihm hockte, blickte Tally fast erschrocken an, und Tally fügte hinzu: »Ich meine, wann wird es endlich hell! Ich habe keine Lust, hier zu überwintern, weißt du?«

»Es ist hell«, antwortete Karan knapp.

Tally blinzelte. »Willst du sagen, daß das alles ist?« fragte sie ungläubig. Sie deutete nach oben. Wo der Himmel sein sollte, erstreckte sich eine geschlossene Decke aus wucherndem Grün und Braun. Kein Himmel. Nicht das kleinste Stückchen Himmel, dachte sie schaudernd.

»Es wird nicht heller?« vergewisserte sie sich.

»Nicht hier«, antwortete Karan. »Vielleicht später, wenn Karan eine Lichtung oder eine Schneise findet. Hier nicht. Dies hier ist das Dazwischen, von dem Karan erzählt hat. Weiter unten ist ewige Nacht. Im Wipfel herrscht Tag.«

»Dann sollten wir versuchen, in den Wipfel hinaufzukommen«, schlug Angella vor.

»Und zu sterben?« fragte Karan matt.

Angella gab einen ärgerlichen Laut von sich. »Hast du nicht vor weniger als einer Stunde behauptet, nur der Boden wäre tödlich?« fauchte sie.

»Der Schlund tötet überall«, erwiderte Karan ungerührt. »Aber an manchen Stellen tötet er schneller.« Er stand auf. Tally bemerkte, wie unsicher und langsam seine Bewegungen waren.

Auch Tally stand auf, machte einen Schritt in Karans Richtung und blieb sehr abrupt wieder stehen, als sie sah, worauf sie überhaupt ging. Für einen Moment sehnte sie die Dunkelheit fast zurück.

Der Boden war kein Boden, sondern ein erschreckend dünnes Geflecht von Ästen, ineinandergewachsenen Luftwurzeln und Blättern, ein riesiges Netz, das fest genug gewesen war, den stürzenden Gleiter aufzufangen, in dem aber gewaltige Löcher gähnten. Sie mußten ein ganzes Batallion erstklassiger Schutzengel auf ihrer Seite gehabt haben, daß während der Nacht keiner von ihnen in eine dieser Fallgruben gestolpert und in die Tiefe gestürzt war.

«Kommt her«, sagte Karan müde. »Karan zeigt euch einen sicheren Weg. Es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht.« Er versuchte sogar zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. Als Tally näher kam, sah sie, daß sein Gesicht grau geworden war. Dann fiel ihr auf, wie unnatürlich er den linken Arm hielt.

»Was ist mit dir?« fragte sie erschrocken. »Du bist verletzt!«

»Das ist nichts«, antwortete Karan. »Es wird heilen. Jetzt kommt und folgt Karan.«

Er wollte sich umwenden und davongehen, aber Angella vertrat ihm rasch den Weg, riß ihn grob an der Schulter herum und griff nach seinem Arm. Karan keuchte vor Schmerz, als sie sein Handgelenk berührte.