»Was mag er damit gemeint haben – wir bringen den Tod?« fragte Hraban.
Talianna zuckte nur hilflos die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist er einfach alt.«
Hraban lachte. »Oh ja«, sagte er. »Und alte Leute reden oft Unsinn, wie? Aber manche behaupten, daß gerade die Alten die Wahrheit sagen.« Er lachte noch einmal, blieb plötzlich stehen und deutete auf das schwarz gewordene Skelett eines Hauses, das so schräg dastand, daß es eigentlich längst hätte umkippen und in den Fluß stürzen müssen. Die ihnen zugewandte Seite des Hauses war zusammengebrochen, so daß man in sein Inneres sehen konnte. Unter den Trümmern waren deutlich die gewaltige Esse und ein ganzes Sammelsurium von Ambossen, Schmiedehämmern und anderen Werkzeugen zu erkennen. »Ihr habt Eisen und Stahl gemacht, nicht wahr?«
Talianna nickte. »Und andere Dinge aus Metall.«
»Ihr auch?« Hraban sah ihr verwirrtes Stirnrunzeln und konkretisierte seine Frage: »Deine Leute, meine ich. Deine Familie.«
»Wir nicht.« Talianna schüttelte heftig den Kopf.
»Mein Vater hat... er war Händler. Wir haben Obst verkauft, Gemüse, auch ein paar Stoffe – alles was man so braucht, eben.« Sonderbar – warum hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen? Hrabans Frage war sicherlich nicht sehr taktvoll, bedachte man, daß sie ihre Familie vor nicht einmal zwei Tagen verloren hatte. Aber es fiel ihr schwer zu glauben, daß dieser zwar sehr finstere, aber freundliche Mann irgend etwas Böses von ihr wollte.
Aber sie hatten das Lager jetzt erreicht, und was Talianna sah, ließ sie Gedelfis düstere Worte auf der Stelle vergessen. Die Söldner hatten einen langgezogenen Halbkreis aus Zelten am Flußufer errichtet, dahinter einen kleinen Pferch, in dem ihre Pferde angebunden waren. Und die gut dreißig Krieger, die noch im Lager zurückgeblieben waren, stellten das bunteste Sammelsurium der verschiedensten Völker und Wesen dar, das sich Talianna nur vorstellen konnte.
Die meisten – nicht alle – von ihnen waren menschlich, aber ihre zum Teil bizarren Kleider und Waffen schlugen Talianna fast sofort in ihren Bann. Für die nächste halbe Stunde war sie einfach nur ein zehnjähriges Kind, das alles ganz genau wissen wollte und Tausende von Fragen hatte, die sie gar nicht alle auf einmal aussprechen konnte. Hraban erwies sich jedoch als geduldiger Führer – er zeigte ihr dieses und jenes, beantwortete ihr alle ihre Fragen und zeigte sich äußerst verständnisvoll, wenn sie etwas nicht gleich begriff. Talianna vergaß sogar das entsetzliche Unglück, das ihnen zugestoßen war, denn das Lager war für sie nicht mehr als ein großer, bunter Jahrmarkt, wenn auch hundertfach interessanter als der, der jedes Frühjahr in Stahldorf stattgefunden hatte.
Nicht alle Reittiere waren innerhalb des Pferches – ein gutes Stück vom Lager entfernt hockten zwei riesige stachelige Kolosse, braun und schwarz und so groß, daß Talianna im allerersten Moment einfach nicht glaubte, daß es lebende Wesen von dieser Größe – und vor allem Masse – überhaupt gäbe. Hraban lächelte, als er sah, wie sie die beiden gepanzerten Giganten mit offenem Mund und runden Augen anstarrte, sagte aber nichts, bis sie ihn schließlich fragte, was um alles in der Welt das sei.
»Hornbestien«, antwortete der Söldnerführer. »Du hast noch nie davon gehört?«
Talianna brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. Sie hatte von diesen Tieren gehört, so wie sie von vielen Dingen und Wesen gehört hatte, die es gab; irgendwo. Sie hatte auch gehört, daß sie sehr groß und unglaublich stark sein sollten, aber – das??
»Willst du sie genauer sehen?« fragte Hraban freundlich. »Komm mit. Und keine Angst. Sie sind vollkommen harmlos. Für uns«, fügte er geheimnisvoll hinzu. Talianna hatte ganz entschieden Angst vor den beiden viereinhalb Meter hohen Kolossen, aber sie wagte es nicht, das in Hrabans Gegenwart zuzugeben. Trotzdem begann ihr Herz wie ein Hammerwerk zu rasen, als sie die Pferdekoppel umgingen und sich den beiden Giganten näherten.
Ein scharfer Geruch, von dem Talianna noch nicht wußte, ob er nun unangenehm war oder nicht, schlug ihnen entgegen, und als sie die beiden Tiere fast erreicht hatten, löste sich ein schwarzgrüner Umriß aus dem Schatten der Giganten und wurde zu etwas, das Talianna fatal an eine aufrecht gehende, menschengroße Kröte erinnerte. Abrupt blieb sie stehen und ließ Hrabans Hand los. Diesmal gelang es ihr nicht mehr ganz, ihr Erschrecken zu verbergen.
Hraban lachte. »Keine Angst, Talianna«, sagte er. »Das ist nur Hrhon. Er und seine Gefährtin reiten diese kleinen Schmusetierchen.«
Talianna musterte Hrhon aufmerksam, trat aber vorsichtshalber einen halben Schritt hinter Hraban zurück. Das Wesen war nicht ganz so groß wie ein normal gewachsener Mensch, dafür aber so breit wie hoch. Der größte Teil seines Körpers wurde von einem eng anliegenden, schimmernden Geflecht aus Bronzeschuppen bedeckt, und auf seinem flachen Schädel saß die lächerliche Karikatur eines Helmes. Seine Hände, die nur drei Finger und einen sonderbar deformierten Daumen hatten, waren ein gutes Stück größer als Taliannas Kopf. Auf seinem Rücken hing ein gewaltiger braunschwarzer Schild, von dem Talianna beim besten Willen nicht sagen konnte, ob er nun zu seinem Körper oder zu seiner Bewaffnung gehörte, und sein Gesicht war eindeutig das einer Schildkröte – flach und ohne Ohren oder Nase, mit dunklen Augen und einem sehr breiten, lippenlosen Maul.
»Hrhon ist ein Waga«, beantwortete Hraban ihre unausgesprochene Frage. »Er und Essk kommen aus dem Westen. Aus einem Land. von dem du wahrscheinlich noch nie gehört hast.«
Das Schildkrötenwesen stieß einen zischelnden, hohen Laut aus, und Hraban antwortete mit einem ähnlich hängenden Geräusch, auf das hin sich der Waga umwandte und mit komisch aussehenden Schritten davonging.
»Ihr könnt mit ihm reden?« fragte Talianna verwundert.
Hraban lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht.
»Aber natürlich. Er ist kein Tier, Kind, sondern ein denkendes Wesen – wie du und ich. Aber jetzt komm. Du wolltest die Hornbestien sehen.«
Im Grunde hatte Talianna gar keine Lust mehr, sich den Riesentieren noch weiter zu nähern. Ganz gleich, was Hraban behauptete, sie hatte Angst vor den tonnenschweren Kolossen, die wie lebende Felsen vor ihr aufragten. Aber sie wagte es nicht, Hraban zu widersprechen.
Vorsichtig ging sie näher an die Kolosse heran. Die beiden Hornbestien sahen ein bißchen aus wie zu groß geratene Igel, mit all ihren Stacheln und Panzerplatten, fand sie, und sie hatten geradezu lächerlich kleine Köpfe. Sie schienen zu schlafen, und sie hatten sich dabei zusammengerollt wie große Katzen und die Schädel auf die beiden vorderen ihrer insgesamt sechs Beine gelegt. Talianna sah, daß sie eine sonderbare Konstruktion aus Leder und Holz auf dem Rücken trugen. Sättel. Aber sie fragte sich vergeblich, wozu um alles in der Welt man derart riesige und sicher plumpe Reittiere brauchen konnte.
»Sie sind nicht plump«, beantwortete Hraban ihre entsprechende Frage. »Sie sehen vielleicht nicht so aus, aber sie laufen schneller als jedes Pferd, und sie rennen eine Woche, ohne anzuhalten, wenn es sein muß. Und wozu man sie braucht?« Hraban grinste. »Zum Beispiel, um ein Stadttor einzurennen. Oder eine feindliche Armee niederzutrampeln.«
Seine Antwort machte Talianna betroffen, denn für einen Moment hatte sie vergessen, was Hraban wirklich war – nämlich ein Mann, der sein Brot mit Kämpfen und Töten verdiente. Sie sah ihn an, und obgleich er immer noch lächelte, kam er ihr mit einem Male düster und finsterer vor als noch vor Augenblicken. Plötzlich hatte sie ein ganz kleines bißchen Angst vor ihm.
Talianna hatte mit einem Male keine Lust mehr, die beiden Riesentiere zu betrachten, und als Hraban sie fragte, ob sie hinaufsteigen und einmal im Sattel sitzen wolle, lehnte sie ab.