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»Der Arm ist gebrochen«, stellte Angella fest. »Und du sagst, das ist nichts?« Sie sah Karan vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. »Hier unten kann dieses nichts deinen Tod bedeuten, alter Mann.«

»Karan wußte, daß er sterben wird, wenn er hierher zurückkehrt«, antwortete Karan, sehr leise, aber mit sehr großem Ernst. »Es spielt keine Rolle. Vielleicht... vielleicht ist es sogar gut so. Und nun kommt, ehe ihr zu Beute werdet.«

Er löste seinen Arm mit sanfter Gewalt aus Angellas Griff, sah sich suchend um und deutete in die Richtung, in der sich der zerschmetterte Gleiter als weißer Schemen in der ewigen Dämmerung erhob. »Dorthin.«

»Was ist dort?« fragte Tally.

»Norden.« Karan nickte, um seine Worte zu bekräftigen. »Du wolltest nach Norden, oder?«

»Woher willst du das wissen?« fragte Angella mißtrauisch. »Es kann genausogut Süden sein, oder Westen oder Osten.«

»Es ist Norden«, beharrte Karan. »Karan weiß es. Er wird vorausgehen. Folgt ihm in zehn Schritten Abstand. Und du, Tally, hältst deine Waffe bereit.«

Wieder wollte er losgehen, aber diesmal war es Tally, die ihn zurückhielt. »Einen Moment noch, Karan«, sagte sie. »Was soll das? Wir hatten vereinbart, Weller zu suchen, und –«

»Niemand hat das vereinbart«, unterbrach sie Karan.

»Du hast es gesagt, aber es ist unmöglich.«

Er blickte sie einen Moment ernst an, aber etwas in ihrem Gesicht schien ihm zu sagen, daß sich Tally mit dieser Erklärung allein nicht zufrieden geben würde; denn nach einem weiteren Augenblick seufzte er, wandte sich um und ging an Tally vorbei bis zu einer der gewaltigen Lücken im Netzboden. »Komm.«

Tally zögerte. Allein die Airstellung, sich dem gewaltigen Schlund zu nähern, erfüllte sie mit Entsetzen. Dann überwand sie ihre Furcht und trat, wenn auch sehr vorsichtig, neben ihn. Angella und Hrhon folgten ihr. Ein Schwall feuchtwarmer, nach Fäulnis riechender Luft schlug ihnen entgegen. Unter ihnen, entsetzlich tief unter dem Netz, glitzerte schwarzer, sumpfiger Boden, eine schier unendliche Ebene wie aus geschmolzenem Teer, auf der sich nur hier und da ein verirrter Lichtstrahl brach.

Tally schätzte, daß sie mindestens hundert Meter hoch waren. Es war ein bizarrer Anblick: sie standen buchstäblich im Nichts, achtzig oder mehr Manneslängen über dem Boden, im Herzen eines ungeheuerlichen, vor Leben schier überquellenden Waldes – aber unten ihnen war nichts. Nichts als eine Kathedrale aus Schwärze, in der die blattlosen Stämme der Riesenbäume wie titanische Stützpfeiler aufragten. Das Leben hatte den Waldboden geflohen und sich auf eine zweite, höher – und sicherer – gelegene Ebene zurückgezogen. Der Anblick war unglaublich niederschmetternd. Unter ihnen war Wald, der Urquell allen Lebens, aber etwas hatte ihn in das genaue Gegenteil davon verwandelt.

»Großer Gott«, murmelte Angella. »Wie hoch sind diese Bäume, Karan?«

»Sehr hoch«, antwortete Karan. »Über euch noch einmal so hoch wie unter euch. Dort unten ist der Tod, Angella. Wenn Weller dort hinabgestürzt ist, lebt er nicht mehr. Nichts lebt dort unten.«

Angella schauderte sichtlich, beugte sich aber trotzdem neugierig vor und blinzelte in die Tiefe hinab. »Was ist das?« murmelte sie. »Ein Sumpf?«

Karan nickte. »Auch das«, sagte er. »Karan war nur ein einziges Mal dort unten, und er hat...« Er zögerte, sehr lange, und als er weitersprach, hatte Tally das sichere Gefühl, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen. »Er hat großes Glück gehabt, davonzukommen. Nichts lebt dort unten, außer den Läufern und den Bäumen.« Er sah Tally an. »Weller ist tot. Und auch du wirst sterben, wenn du ihn suchen willst, dort unten.«

Tally schwieg. Trotz der schwülen Wärme, die sie einhüllte, fror sie plötzlich wieder. Ein schlechter Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Ganz langsam stand sie auf, drehte sich herum und starrte den zertrümmerten Gleiter an. Das Gefährt hing mit zerborstenen Schwingen zwischen den Ästen, gefangen von dem ungeheuerlichen Netz, auf das sich das Leben zurückgezogen hatte, und fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Das Heck mit dem bizarren Ruder war verkohlt. In diesem Moment kam es Tally mehr denn je wie ein Symbol vor – ein Symbol für das Unglaubliche, das sie geschafft hatten. Und die Sinnlosigkeit dessen, was sie noch tun wollten. Für einen Moment, einen winzigen Moment nur, war sie nahe daran, einfach aufzugeben. Dann regte sich ihr alter Trotz wieder in ihr. Sie lächelte. »Geh voraus«, sagte sie.

3

Zeit hatte keine Bedeutung in der graugrünen Dämmerung des Dazwischen. Hinterher begriff Tally, daß es Stunden gewesen sein mußten, die sie Karan über den schmalen Grat zwischen Tag und Nacht gefolgt waren, aber während sie es tat, schien die Zeit einfach stehenzubleiben. Jeder Schritt war mühsamer als der vorangegangene, und es spielte keine Rolle, wie viele sie taten – ihre Umgebung war immer gleich, ein dünnes, schwankendes Netz auf halbem Wege zwischen Himmel und Hölle. Der Regen hörte nicht auf.

Zumindest gewöhnte sie sich allmählich an die unheimliche Beleuchtung, so daß sie nach einer Weile mehr Einzelheiten erkennen konnte. Die Zwischenetage des Waldes war nicht so bar jeden Lebens, wie sie bei Tagwerden gedacht hatte – wohin sie auch blickte, huschte und bewegte es sich; es gab große, knorrige Nester voller gepanzerter Insekten, kleine pelzige Etwasse, um die Karan einen respektvollen Bogen schlug, und Kreaturen, die halb Pflanze, halb Tier zu sein schienen.

Einmal begegnete ihnen etwas, das wie ein Hornkopf aussah, nur größer, bizarrer und sehr viel wilder. Aber Karan hob nur beruhigend die Hand und ging einfach an ihm vorüber, und nach kurzem Zögern folgten ihm auch Tally und Angella. Das Rieseninsekt hockte einfach reglos da und starrte ihnen nach.

Doch es gab auch Stellen, an denen Karans Nervosität zu purer Angst wurde – so gerieten sie einmal in einen Bereich des Dazwischen, in dem die Zwischenräume zwischen den Bäumen von großen, silbern glänzenden Netzwerken ausgefüllt waren; Spinnennetze, die keine Bewohner hatten, Karan aber mit unübersehbarem Entsetzen erfüllten. Weder Tally noch Angella widersprachen, als er sie hastig aufforderte, kehrt zu machen und den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren.

Nicht immer bewegten sie sich über das Netz. Manchmal gähnten gewaltige Löcher in dem hängenden Boden, so daß sie über die vom Regen glitschig gewordenen Äste der Riesenbäume balancieren mußten, was vor allem Hrhon vor große Probleme stellte. Und mehr als einmal waren sie gezwungen, umzukehren und zurückzugehen, um unüberwindbare Abgründe zu umgehen.

Gegen Mittag – Tally vermutete zumindest, daß es Mittag sein mußte – rasteten sie. Sie hatten keinerlei Nahrungsmittel, aber das Wasser, das noch immer unablässig aus dem lebenden Himmel über ihnen strömte, stillte zumindest ihren Durst. Angella fragte Karan, ob es jagdbares Wild im Schlund gäbe. Karan antwortete nicht einmal darauf. Nach einer Stunde gingen sie weiter.

Kurz darauf wurde es vor ihnen hell. In die dunkelgrüne Dämmerung mischte sich ein erster Schimmer von Sonnenlicht, und Karan blieb plötzlich stehen. Er sagte nichts, hob aber mahnend die Hand, als Angella und Tally zu ihm aufschlossen. Der Ausdruck auf seinen Zügen war sehr besorgt.

»Laßt den Waga vorausgehen«, befahl er.

Tally wollte widersprechen, aber Hrhon schien ohnehin nur auf dieses Stichwort gewartet zu haben. Mit einer fast beiläufigen Bewegung schob er Karan zur Seite und balancierte über den schwankenden Boden los. Augenblicke später hatte ihn das Dickicht verschluckt.

»Was ist dort vorne?« fragte Tally. »Eine Lichtung?«

»Möglicherweise«, erwiderte Karan. Er sah sie nicht an. »Aber Licht bedeutet Gefahr. Wartet, bis der Waga zurück ist.«

Ihre Geduld wurde auf keine sehr harte Probe gestellt. Schon nach wenigen Augenblicken tauchte Hrhon wieder aus dem grünverschlungenen Dickicht auf, erregt mit beiden Armen wedelnd und so schnell, wie es seine kurzen Beine und der schwankende Boden zuließen.