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»Kohmmt!« zischte er. »Sssnell!« Er fuhr mitten im Schritt herum, wedelte wieder ungeduldig mit den Armen und lief los, noch ehe Tally und Angella ihn ganz eingeholt hatten. Und kaum eine Minute später sahen sie, was der Grund für Hrhons Erregung war:

Der Wald lichtete sich stärker, und nach weniger als zwei Dutzend Schritten erreichten sie eine Stelle, an der der Himmel sichtbar war. Aber Tally sah schon auf den zweiten Blick, daß es keine natürlich entstandene Lichtung war – etwas hatte das gewaltige Blätterdach durchschlagen, Äste und Baumstämme geknickt und ein ungeheuerliches, fast kreisrundes Loch in den Wald gestanzt, ehe es hundert Meter unter ihnen zerschmettert war. Es war der Drache.

Das Ungeheuer mußte mit der Gewalt eines vom Himmel stürzenden Sternes in den Dschungel gefallen sein. Sein Körper war fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, zerfetzt und zerbrochen und von abgebrochenen Ästen durchbohrt wie von riesigen Pfeilen. Eine seiner Schwingen war verschwunden, das lächerlich dürre, brandgeschwärzte Knochengerüst, verdreht, aber wie durch ein Wunder noch in einem Stück, wie eine Skeletthand über den Boden ausgebreitet. Überall in den Bäumen hingen gewaltige, schwarze Hautfetzen. Selbst nach all der Zeit roch die Luft noch verbrannt.

Tally schauderte. Sie hätte Triumph empfinden müssen beim Anblick des toten Kolosses. Absurderweise war alles, was sie spürte, Angst.

Und Mitleid. Sie verstand ihre Gefühle selbst nicht, und ihre Verwirrung wuchs noch, als sie sich ihrer vollends bewußt wurde: sie hatte allen Grund, diese Ungeheuer zu hassen, und doch tat ihr der erschlagene Titan unter ihr einfach nur leid.

Eine Hand berührte sie an der Schulter. Erschrocken senkte sie die Hand zum Gürtel und fuhr herum, erkannte im letzten Moment Karan und entspannte sich sichtlich.

»Das solltest du nicht tun«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Meine Nerven sind nicht mehr die besten, weißt du?«

»Geht vom Waldrand zurück«, antwortete Karan. »Es ist gefährlich.«

Tally sah ihn fragend an, und Karan hob die Hand und deutete nach oben. Tallys Blick folgte der Bewegung. Und einen Moment später begriff sie, wie Karans Worte gemeint gewesen waren.

Es war nicht so, daß sie irgendwelche Einzelheiten erkannte; über ihnen spannte sich der Himmel in einem nach Stunden endloser Dämmerung fast schmerzhaft intensivem Blau, das das Blättergewirr darunter dunkler erscheinen ließ, als es war. Tally sah jetzt, daß der Wipfelbereich des Waldes eine Stärke von gut siebzig, achtzig Metern haben mußte – und er war voller Bewegung.

Nichts war wirklich zu erkennen, nichts einzeln auszumachen. Überall huschte und zuckte es, flitzten kleine und große Körper hin und her, schnappten rasiermesserscharfe Fänge oder klebrige Zungen, schlossen sich tödliche Blüten um ahnungslose Opfer...

Tally stand fast fünf Minuten vollkommen reglos da und blickte in die Höhe, ohne auch nur einen einzigen Bewohner dieses tödlichen Waldes wirklich zu erkennen. Aber sie begriff, daß dieser Wald kein Wald war, sondern nichts anderes, als ein einziger großer Magen – das Leben rings um sie herum war ein unablässiges Fressen und Gefressen werden, eine Orgie des Tötens, in der es aus irgendeinem Grunde eine sehr schmale, ruhige Zone gab, in der sie standen.

»Begreifst du nun?« fragte Karan, als sie sich endlich wieder von dem bizarren Anblick löste.

Tally nickte.

»Aber ich nicht«, sagte Angella. Karan und Tally sahen sie fragend an, und Angella deutete mit einer fast zornigen Kopfbewegung in die Tiefe. »Du hast behauptet, dort unten wäre kein Leben«, fuhr sie fort. »Dann erklär' mir, was das ist.«

Als Tally auf den Drachen herabsah, begriff sie, was Angella meinte. Sie war absolut sicher, daß das tote Ungeheuer vor wenigen Minuten noch vollkommen reglos dagelegen hatte. Jetzt hatte sich der Anblick vollkommen verändert.

Der Drache bewegte sich. Genauer gesagt, dachte Tally schaudernd – etwas ihn ihm bewegte sich, kroch unter seiner Haut entlang, ließ längst erstarrte Muskeln noch einmal zucken, das gewaltige Maul sich noch einmal öffnen und wieder schließen...

Angeekelt wandte sie sich ab.

»Das ist kein Leben«, sagte Karan ruhig. »Es sieht nur so aus.«

»So?« Angellas Stimme war sehr scharf. Sie sah jetzt wieder aus wie ein zorniges Kind. »Dann erklär mir, was es ist. Wovor –«

»Karan kann dir nichts erklären, was er selbst nicht weiß«, unterbrach sie Karan hart. »Du kannst hierbleiben, wenn du willst. Karan jedenfalls wird gehen. Er kennt einen Ort, nicht weit von hier, wo ihr sicher seid.« Er wollte sich umdrehen und gehen, aber Angella riß ihn grob zurück. Karans Lippen zuckten vor Schmerz, als sie seinen gebrochenen Arm berührte.

»Du wirst jetzt stehenbleiben und antworten!« schrie sie. »Du –«

Tally schlug ihre Hand herunter. »Laß das!« sagte sie warnend. »Wir haben andere Sorgen, als uns gegenseitig an die Kehle zu gehen!« Sie schüttelte den Kopf, seufzte, und fügte etwas ruhiger hinzu: »Was ist los mit dir? Warum bist du so aggressiv? Hast du Angst?«

Angella schnaubte. »Warum fragst du das nicht Karan?« Sie machte eine Ärgerliche Handbewegung.

»Was bist du, Liebling? Einfach nur naiv, oder auch dumm? Du hast diesen verdammten Wald gesehen, oder?«

»Und?« fragte Tally. Sie verstand in diesem Moment wirklich nicht, worauf Angella hinauswollte.

»Und?« äffte Angella ihre Frage nach und zog eine Grimasse. »Und? Und? Zum Teufel, Tally, dieser Wald ist kein Wald, sondern ein einziges großes Maul, das nichts anderes tut als Fressen.«

»Das ist mir aufgefallen«, sagte Tally ärgerlich.

»Und mir ist aufgefallen, daß wir noch leben«, erwiderte Angella. »Findest du es nicht auch komisch, daß wir seit einem halben Tag durch diese Hölle marschieren und noch nicht einmal von einer Mücke gestochen worden sind?« Sie spie aus, trat ein Stück zurück und funkelte Karan zornig an. »Irgend etwas stimmt hier nicht!« behauptete sie. »Entweder mit diesem Wald, oder mit unserem sogenannten Führer!«

»Wäre es dir lieber, wir wären schon aufgefressen worden?« fragte Tally. Aber der spöttische Ton, den ihre Worte verlangten, wollte ihr nicht recht gelingen. Angellas Worte hatten sie mehr getroffen, als sie zugeben wollte – für einen Moment fragte sie sich, wieso sie selbst nicht schon längst auf den gleichen Gedanken gekommen war.

»Dann wüßte ich wenigstens, woran wir sind«, murrte Angella. »Ach zum Teufel, hätte ich dich doch nie getroffen. Oder dir gleich die Kehle durchgeschnitten«, fügte sie böse hinzu.

»Du hast es versucht, oder?« erwiderte Tally.

Angella zog eine Grimasse, fuhr auf der Stelle herum und entfernte sich ein paar Schritte, blieb aber stehen, ehe sie vollends außer Sicht kommen konnte.

»Es... tut mir leid«, sagte Tally langsam, zu Karan gewandt. »Sie ist nervös.«

Karan nickte. »Aber sie hat recht«, sagte er. »Karan hat sich schon gefragt, wie lange es dauert, bis ihr es merkt.« Er versuchte zu lächeln, aber irgendwie gelang es ihm nicht richtig. »Auch Karan hat sich diese Frage gestellt, beim ersten Mal. Und auch er hat keine Antwort gefunden.« Er machte ein weit ausholende Handbewegung.

»Dieser Bereich des Waldes ist sicher. Frag Karan nicht, warum es so ist. Es ist einfach so.«

Er log. Tally konnte nicht sagen wieso, aber sie wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß er log, im gleichen Moment, in dem sie die Worte hörte. Er log, oder zumindest verschwieg er ihr etwas, etwas Wichtiges.

Aber sie sprach nichts von alledem aus, sondern zwang sich zu einem neuerlichen, um Vergebung heischenden Lächeln. Dann deutete sie auf Karans Arm.

»Tut es sehr weh?«

»Ja«, sagte Karan. »Aber Schmerz bedeutet nichts. Er ist gut. Er sagt uns, daß wir leben.«