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»Du solltest Hrhon nach deinem Arm sehen lassen«, sagte Tally. »Er versteht sich auf das Versorgen von Wunden.« Sie lächelte. »Mich hat er schon mehr als einmal zusammengeflickt.«

»Das ist nicht nötig.« Karan wich ein ganz kleines Stück von ihr zurück und legte die Hand auf den verletzten Arm. »Karan wird sterben, so oder so. Aber vorher wird er euch hier herausbringen.«

»Unsinn«, widersprach Tally gereizt. »Hör endlich auf, von nichts anderem als dem Tod zu reden, du alter Schwachkopf. Wir schaffen es schon.«

Sie fühlte sich hilflos. Ihre Gereiztheit war nicht echt, sondern nur Ausdruck der tiefen Betroffenheit, mit der sie Karans Worte erfüllte. Und er schien es zu spüren, denn als Antwort auf ihre scharfen Worte lächelte er plötzlich.

»Was schreckt dich so an dem Gedanken, sterben zu müssen?« fragte er. »Karan hat es immer gewußt. Er wußte, daß er den Tod finden würde, wenn er hierher zurückkehrt. Er ist dem Schlund einmal entwischt, aber niemand bekommt eine zweite Chance.«

»Hast du... dich deshalb geweigert, uns zu führen?« fragte Tally.

Karan nickte. »Euch und andere, ja. Aber du mußt dir nichts vorwerfen – es ist gut, so wie es gekommen ist.«

»Was ist gut daran, zu sterben?«

»Manchmal ist es besser«, erwiderte Karan. »Du wirst Karans Worte verstehen, wenn du gelernt hast, den Schlund zu verstehen, Tally. Du –«

Angella stieß einen erschrockenen Laut aus.

Tally fuhr herum, die linke Hand auf dem Schwert, die andere auf dem Griff des Lasers. Aber es gab nichts, wogegen sie die eine oder andere Waffe hätte ziehen können. Keines von all den Alptraummonstern, deren Bilder ihre überreizte Phantasie ihr in dem Sekundenbruchteil vorgaukelte, ehe sie sich zu Angella herumgedreht hatte, war wirklich da – das Mädchen mit dem Narbengesicht stand da, die rechte Hand ausgestreckt und auf den toten Drachen gerichtet. Ihre Lippen zitterten.

»Was ist los?« fragte Tally alarmiert. Angella reagierte nicht, sondern starrte weiter in die Tiefe. Ihre Augen waren unnatürlich weit und dunkel vor Furcht.

»Verdammt noch mal – was ist passiert?!« schrie Tally. Wütend trat sie auf Angella zu und riß sie an der Schulter herum. »Rede!« befahl sie.

»Es... es war...« Angella atmete hörbar ein, streifte Tallys Hand ab und suchte Zuflucht in einem unsicheren Lächeln. »Für... für einen Moment dachte ich, ich hätte etwas gesehen« sagte sie.

»Etwas?« Tally hob zweifelnd die linke Augenbraue. Wenn Angella vor Schrecken die Beherrschung verlor und aufschrie, dann hatte sie ganz entschieden mehr als etwas gesehen. »Zum Teufel, Angella – was hast du gesehen?« fragte sie scharf. »Was war es?«

»Ich... ich dachte, es wäre... Weller«, stammelte Angella.

»Weller?« Tally keuchte vor Unglauben. »Dort unten?« Angella nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

»Ich muß mich getäuscht haben«, sagte sie, eine Spur zu hastig. »Ich... ich dachte, er wäre es, aber gleichzeitig war es...«

Sie brach ab, atmete hörbar ein und blickte unsicher an Tally vorbei nach unten. »Es war entsetzlich«, flüsterte sie. »Es war Weller, und gleichzeitig war es etwas... etwas anderes.«

»Das ist unmöglich!« mischte sich Karan ein. »Vollkommen ausgeschlossen! Dort unten lebt nichts.«

»Woher willst du das wissen?« Tally fuhr herum und starrte Karan an. »Ich denke, du warst niemals dort?«

»Karan weiß es«, beharrte Karan. »Weller kann nicht mehr am Leben sein. Er wurde aus dem Gleiter geschleudert. Wenn ihn das Feuer des Drachen nicht getötet hat, so hat es der Sturz getan. Ihr seid Meilen von der Absturzstelle entfernt. Wie soll er hierherkommen? Er muß tot sein. Und wenn nicht, so wäre es besser für ihn, er wäre tot.«

»Jetzt reicht es«, sagte Tally, sehr leise, aber voller Wut. »Vielleicht habe ich mich geirrt, als ich dich vorhin in Schutz genommen habe. Gestern wußtest du noch, daß dort unten nichts lebt. Jetzt lebt er vielleicht, aber es wäre besser für ihn, er wäre tot!« Sie trat drohend auf Karan zu. »Welches Spiel spielst du mit uns, Karan? Was ist dort unten?«

»Der Tod«, sagte Karan. »Nicht der Tod, wie du oder Angella ihn kennen, Tally. Etwas, das tausendmal schlimmer ist.«

»Das reicht mir nicht«, sagte Tally. »Ich will jetzt eine klare Antwort von dir, Karan. Sag mir, was dort unten ist, oder ich schwöre dir, daß ich hinuntergehen und nachsehen werde. Und du wirst mich begleiten.«

»Niemals!«

Tally hob schweigend die Hand, und Hrhon trat mit einem raschen Schritt hinter Karan und legte eine seiner mächtigen Pranken auf seine Schultern.

»Niemals!« beharrte Karan. Seine Stimme zitterte, und sein Blick flackerte vor Angst. Aber es war nicht die Angst vor Hrhon, das begriff Tally plötzlich. Ganz gleich, was der Waga ihm antun mochte, es konnte nicht annähernd so schlimm sein wie das, was dort unten auf sie lauerte.

»Hört auf!« sagte Angella plötzlich.

Tally starrte sie wütend an. »Misch dich nicht ein!« sagte sie. »Ich –«

»Vielleicht wirfst du einmal einen Blick nach oben«, unterbrach sie Angella, »bevor du etwas sagst, was dir später leid tut.«

Tally starrte sie eine Sekunde lang verwirrt an, hob aber den Blick und sah in den kreisrunden Flecken blauen Himmels hinauf, der über dem Wald sichtbar geworden war.

Er war nicht mehr leer. Auf dem strahlenden Azurblau waren eine Anzahl weißer, wie hingetupft wirkender Wolken erschienen. Und darüber, sehr hoch darüber, aber nicht so hoch, daß sie nicht mehr sichtbar gewesen wären, kreisten drei gewaltige, nachtschwarze Drachen.

»Das... das ist doch unmöglich«, wisperte Tally. Der Anblick lähmte sie. »Das... das kann nicht sein... Sie können nicht wissen, daß wir hier sind!«

»Das wissen sie auch nicht«, sagte Angella nachdenklich. Sie deutete nach unten, auf den toten Drachen, und sie tat es, ohne hinabzusehen, wie Tally sehr wohl registrierte. »Sie suchen das da!«

»Du hast recht...« Tally nickte – eigentlich gegen ihre Überzeugung – fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und deutete in den Wald zurück.

»Laßt uns verschwinden, ehe sie uns wirklich sehen können.«

Hastig wichen sie in die Deckung des Waldes zurück, weit genug, um von den Reitern, die zweifellos auf den Rücken der drei Drachen saßen, nicht mehr gesehen werden zu können, aber noch nicht ganz bis in den Bereich ewiger Dämmerung hinein.

»Und jetzt?« fragte sie.

Karan deutete in die grüngraue Dämmerung hinein.

»Nach Norden. Karan weiß einen sicheren Platz für die Nacht.«

Ohne ein weiteres Wort gingen sie los.

4

Karans sicherer Platz für die Nacht war ein Alptraum. Stunde um Stunde waren sie durch das schwindelndmachende Halblicht der Dämmerungszone gelaufen. Mal waren sie über titanische Äste balanciert, mal hatten sie sich an jäh aufklaffenden Abgründen entlanggetastet; die meiste Zeit jedoch waren sie über das gewaltige Netz aus Pflanzenfasern und Gestrüpp gegangen, das sich hundert Meter über dem Boden spannte, einem zweiten, nach oben verlegten Waldboden gleich, eingehüllt von unheimlichem Licht und Stille und dem beständig strömenden Regen. Bald schien es Tally, als könne sie sich schon gar nicht mehr erinnern, wie es war, nicht bis auf die Haut durchnäßt zu sein und zu frieren. Aber ganz, wie Karan es prophezeit hatte, hörte der Regen nicht auf, sondern fiel unablässig, bis es dunkel wurde.

Mit dem letzten Licht des Tages schließlich erreichten sie den verbrannten Baum. Obwohl es oben über dem Wald bereits dämmerte, wurde es vor ihnen noch einmal heller; denn das Blätterdach des Wipfels war hier nicht so vollends geschlossen wie anderswo – das geschwärzte Skelett des Riesenbaumes ragte wie eine vielfingrige Knochenhand in den Himmel hinauf. Sein Stamm, der den Durchmesser eines Hauses hatte, glänzte vor Feuchtigkeit wie poliertes schwarzes Eisen, und allein sein Anblick ließ Tally einen Moment im Schritt verharren. Er wirkte... böse.