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Es war nicht einfach nur ein toter Baum, dachte Tally schaudernd. Irgendwann einmal vor einem oder auch hundert Jahren mußte ihn der Blitz getroffen und gespalten haben, und irgend etwas war mit ihm geschehen, was die Rückkehr des Lebens nachhaltig verhinderte. Auf der borkigen Rinde aus zu Stein gewordenem Holz war nicht der winzigste Flecken Moos zu sehen; keine der Millionen Parasitenpflanzen, die auf den anderen Stämmen wucherten; nichts. Der Baum war tot, und er war so nachhaltig tot, daß alles Leben seine Nähe zu fliehen schien. Selbst das Netzwerk des Dazwischen war unterbrochen. Der Baum stand inmitten des Waldes wie ein zerbrochener Riesenspeer, der in den Boden gerammt worden war. Und er war Teil jenes entsetzlichen nichtWaldes dort tief unter ihnen. Den Hauch des abgrundtief Bösen, den sie gespürt hatte, als Karan ihr das erste Mal den Boden zeigte, fühlte sie auch jetzt. Wie einen Pesthauch, den das schwarze Monstrum ausstrahlte.

Im Nachhinein erschien es Tally wie ein Wunder, daß sie alle die waghalsige Kletterei unbeschadet überstanden hatten, die nötig gewesen war, die letzten Meter zu überwinden. Nicht, daß sie auch nur noch einen einzigen Gedanken daran verschwendet hätte, als sie es geschafft hatten... Ihre Aufmerksamkeit wurde voll von dem in Anspruch genommen, was sie in seinem Inneren erwartete ...

Sie war nicht sehr überrascht, den Baum hohl vorzufinden.

Hohl – nicht leer.

Nur wenig mehr als einen Meter unter der Stelle, an der Karan sie durch den zerborstenen Stamm führte, spannte sich ein gewaltiges, silbernweißes Spinnennetz. Seine Fäden waren absurd dünn, verglichen mit der ungeheuerlichen Größe des Gebildes – Tally schätzte seinen Durchmesser auf gut zwanzig Meter –, nicht sehr viel stärker als normale Spinnweben. Aber es waren Millarden.

»Wenn... das ein Witz sein sollte, war es kein Guter, Karan«, sagte Angella. Ihre Stimme zitterte vor Ekel.

»Was soll das?«

»Es ist ein sicherer Platz«, beharrte Karan. »Geht hinein – keine Sorge, es ist fest genug, selbst den Waga zu tragen.«

Angella keuchte. »Hinein?« wiederholte sie ungläubig. Ihre Stimme wurde schrill. »Du bist völlig übergeschnappt, was?«

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Karan ruhig. »Die Wesen, die es geschaffen haben, sind fort.«

»Es sieht ziemlich neu aus«, sagte Tally. Auch sie mußte all ihre Beherrschung aufbieten, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen. Die Vorstellung, dieses ungeheuerliche Spinnennetz zu berühren, erfüllte sie mit unbeschreiblichem Ekel. Ihre Augen begannen sich allmählich an das schwache Licht hier drinnen zu gewöhnen, und sie sah zahllose, in helle Spinnenseide eingeschlossene Kokons unterschiedlicher Größe. Beute. In manchen von ihnen bewegte sich etwas. Das Gefühl von Ekel in Tallys Magen steigerte sich zu echter körperlicher Übelkeit. Sauer schmeckender Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge.

»Sie sind fort«, beharrte Karan. »Sie werden nicht kommen, solange wir hier sind.«

Tally sah ihn zweifelnd an. Karan lächelte aufmunternd – und sprang mit einem Satz auf das Netz herunter! Ein Laut wie von einer ungeheuer großen, gläsernen Harfe erklang; Augenblicke später antwortete ein Echo aus der unsichtbaren Tiefe. Aber das Netz, so zerbrechlich es aussah, hielt.

»Kommt schon«, sagte Karan auffordernd. »Es ist wirklich sicher hier!«

Tally bezweifelte das nicht einmal. Aber sie hätte sich im Moment wohl eher den rechten Arm abhacken lassen, als dieses widerwärtige Netz auch nur zu berühren.

»Jemand sollte Wache halten«, sagte sie.

Karan sah sie nur schweigend an, während Angella hörbar die Luft ausstieß. »Und dieser Jemand bist natürlich du«, sagte sie.

»Wer sonst?« Tally drehte sich abrupt herum und ging wieder ins Freie. Sie spürte echte körperliche Erleichterung, aus der Nähe des Netzes verschwinden zu konnen. Außerdem hatte sie keine Lust, sich mit Angella zu streiten.

Es war vollends dunkel geworden, als sie ins Freie hinaustrat. Der Himmel über dem Wald war schwarz und leer, und es wurde empfindlich kalt. Tally rieb sich schaudernd die Oberarme mit den Händen, suchte sich eine windgeschützte Ecke in dem Gewirr aus versteinerten Ästen und hockte sich hin. Zumindest hatte der Regen aufgehört.

Tally war müde, so müde, daß es ihr schwer fiel, die Augen offen zu halten; sie war sich darüber im Klaren, daß sie kaum mehr in der Lage sein würde, wirklich zu wachen. Die Anstrengungen des vergangenen Tages forderten ihren Preis; jetzt, wo sie zur Ruhe kam. Aber sie wehrte sich auch nicht dagegen. Zum einen hatte es mit Sicherheit keinen Sinn, und zum anderen... nun, sie wollte auch nicht mehr.

Zum ersten Male in ihrem Leben war Tally des Kämpfens wirklich müde. Hätte sich in diesem Augenblick die Dunkelheit vor ihr geteilt und Jandhi oder eine der anderen Drachentöchter wäre hervorgetreten, sie hätte sich nicht mehr gewehrt. Es war ein Gefühl, das ihr fremd war, gegen das sie aber nicht anzukämpfen versuchte. Vielleicht der Einfluß des Schlundes.

»Tally...«

Tally sah auf; verwirrt, überrascht, aber auch alarmiert. Ganz automatisch kroch ihre Hand zum Gürtel und schmiegte sich um den Schwertgriff. Ihr Herz begann zu hämmern. Sie hatte ganz deutlich gehört, daß jemand ihren Namen gerufen hatte – aber sie war allein. Sehr vorsichtig stand sie auf, zog das Schwert aus dem Gürtel und sah sich noch einmal aufmerksamer um. Nein – Angella, Karan und Hrhon waren noch im Inneren des Baumes. Sie hatte den Eingang im Auge, dort, wo sie saß, und wenn sie auch halb eingeschlafen gewesen war, hätte sie doch gemerkt, wäre jemand herausgetreten... Einen Moment lang erwog sie die Möglichkeit, einem Trug zum Opfer gefallen zu sein, verwarf sie aber beinahe sofort wieder – nicht zuletzt, weil sie die Stimme in diesem Augenblick noch einmal hörte: dumpf, sehr weit entfernt, aber auch sehr deutlich: »Taaalllyyy...« Dann sah sie den Schatten.

Mit einer blitzartigen Bewegung wirbelte sie herum, hob das Schwert – und erstarrte.

»Du bist lebensmüde, wie?« fauchte sie, gleichermaßen erschrocken wie erleichtert. Fast unmittelbar darauf kam der Zorn. »Willst du, daß ich dir den Schädel spalte, oder warum schleichst du dich an mich an?«

Angella lächelte dünn. »Ich habe mich auf deine guten Reaktionen verlassen«, sagte sie. »Warum so nervös?« Tally atmete hörbar aus. Ganz langsam senkte sie das Schwert, sah Angella noch einen Moment kopfschüttelnd an und stieß die Waffe dann mit einem unnötig harten Ruck in den Gürtel zurück. »Dieser verdammte Wald macht mich verrückt«, murmelte sie. »Zum Teufel – was suchst du hier?«

»Dasselbe wie du«, erwiderte Angella. »Auch ich finde den Gedanken nicht erbaulich, in einem Spinnennetz zu schlafen.« Sie hockte sich mit untergeschlagenen Beinen hin.

Nach sekundenlangen Zögern tat es Tally ihr gleich.

»Hast du Angst, die Spinnen könnten zurückkehren?«

»Nein.« Die Antwort kam so schnell, daß Tally begriff, daß Angella nur auf diese Frage gewartet hatte. »Karan sagt die Wahrheit. Und gerade das ist es, was mir Sorge bereitet. Irgend etwas stimmt nicht mit diesem verdammten Wald. Und mit Karan.«

»Fang nicht schon wieder an«, seufzte Tally.

»Warum nicht?« Angella runzelte ärgerlich die Stirn.

»Du weißt so gut wie ich, daß Karan uns irgend etwas verschweigt? Zum Teufel, dieser ganze verdammte Wald ist eine Hölle, und wir wandern gemütlich hindurch, ohne auch nur von einem Moskito gestochen zu werden! Und du willst mir erklären, das wäre ganz in Ordnung so?«

»Vielleicht fliehen sie vor uns.«

»Ja, weil wir so unappetitlich aussehen«, sagte Angella böse. »Zum Teufel, Tally, ich habe Verständnis dafür, wenn du Karan in Schutz nimmst, aber ich habe mir dieses Netz dort drinnen angesehen.« Sie wies mit einer ärgerlichen Kopfbewegung auf den gespaltenen Baum.

»Es ist völlig intakt. In einigen Kokons ist noch lebende Beute! Die Biester, die es gebaut haben, sind vor allerhöchstens einer halben Stunde verschwunden! Irgend etwas schützt uns!«