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Die drei Toten standen aufrecht da, mitten in der Bewegung erstarrt wie bizarre lebensgroße Statuen, gehalten von einem jener dünnen silbergrauen Netze, die Karan am Tage zuvor mit solchem Entsetzen erfüllt hatten. Tally warf nur einen raschen Blick dorthin, wo das Gesicht der Drachentochter sein sollte, und sah hastig wieder weg.

Aber auch die beiden Hornköpfe boten keinen wesentlich erfreulicheren Anblick: der Chitinpanzer des einen war geborsten, aber darunter war nichts mehr. Irgendetwas hatte ihn regelrecht leergefressen, so säuberlich, daß nicht einmal ein Tropfen Blut zu sehen war. Der Brustschild des dritten Kampfinsektes war von Millionen nadelfeiner Einstiche übersät. Darunter schien sich etwas zu bewegen.

»Das ging schnell«, murmelte Angella neben ihr. Natürlich war sie nicht zurückgeblieben, ebensowenig wie Karan. »Da hat jemand gründliche Arbeit geleistet.« Sie sah sich mit routiniertem Blick um. »Kein Kampf«, stellte sie fest. »Sie müssen in Sekunden tot gewesen sein.«

»Ich frage mich, was sie hier gesucht haben«, murmelte Tally. Sie fühlte sich unwohl, nicht nur durch den bloßen Anblick der drei Toten. Angella hatte recht – es gab nicht die geringsten Spuren eines Kampfes. Die drei Eindringlinge mußten binnen Sekunden gestorben sein.

»Das ist eine ziemlich dumme Frage«, sagte Angella.

»Dich. Genauer gesagt – uns.« Sie seufzte. »Aber woher wissen sie, wo wir sind?«

Aber darauf wußte Tally ebensowenig eine Antwort wie sie selbst.

Schaudernd sah sie sich um. Die Nacht war sehr dunkel, aber durch eine Lücke im Blätterdach fiel ein wenig blasser Sternenschein herein, so daß sie erkennen konnten, auf welchem Wege die junge Frau und ihre beiden Begleiter hergekommen waren: die Hand des toten Mädchens umklammerte noch immer den Griff des Lasers, mit dem sie die Bresche in das Geäst des Wipfelwaldes geschnitten hatte. Sie war nicht einmal mehr dazu gekommen, die Waffe abzuschalten. Das rote Licht in ihrem Griff funkelte wie ein blutiges Auge.

»Diese drei sind bestimmt nicht allein gekommen«, vermutete Angella. Sie entdeckte die Waffe in der Hand der Toten, runzelte überrascht die Stirn und trat auf sie zu.

»Nicht«, sagte Karan hastig. »Du bist tot, wenn du sie berührst.«

Angella erstarrte mitten im Schritt. Ihr Blick irrte zwischen Karans Gesicht und der aufrecht stehenden Toten hin und her. Mißtrauen und Schrecken spiegelten sich auf ihrem verbrannten Gesicht. Das Netz war nicht mehr als ein hauchzartes, graues Gespinst. Es sah so harmlos aus. Aber es umhüllte drei Tote, und zumindest zwei davon gehörten zu gefürchtesten Kämpfern, die es auf der Welt gab.

»Glaubst du nicht, daß du uns allmählich eine Erklärung schuldig bist?« fragte Angella.

»Karan kann nichts erklären, was er selbst nicht versteht«, antwortete Karan ruhig. Er schüttelte den Kopf.«

»Wenn sie versuchen, euch selbst hierher zu folgen, werden sie alle sterben. Das ist alles, was er weiß.« Plötzlich stockte er, legte den Kopf auf die Seite, wie um zu lauschen, und hob mahnend die Hand, als Angella weitersprechen wollte.

Dann hörten Tally und die anderen es auch: ein leises, metallisches Knistern, das sich in die Laute der Nacht gemischt hatte. Dann Stimmen, wie von weit, sehr seit her, von einem Geräusch wie von ferner Meeresbrandung überlagert. Und plötzlich ihr Name. Jemand rief ganz deutlich ihren Namen!

»Was ist das?« murmelte Angella. »Das... das ist Zauberei!«

Tally brachte sie mit einer ärgerlichen Geste zum Schweigen. Die Stimmen und Geräusche hielten an, und jetzt erkannte sie auch die Richtung, aus der sie kamen. Es war keine Zauberei, wie Angella glaubte, aber vielleicht etwas, das schlimmer war. Der Ursprung der Geräusche war ein kleines, rechteckiges schwarzes Kästchen im Gürtel der Toten, auf dessen Schmalseite ein grünes Licht aufgeflammt war. Tally streckte die Hand danach aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als ihr Karans Warnung einfiel.

Unschlüssig betrachtete sie das Kästchen. Es glich dem sonderbaren Ding, in das Jandhi hineingesprochen hatte, als Angella sie und Tally im Schuppen überraschte. Und mit einiger Phantasie konnte man aus den verzerrten, von knisternden und pfeifenden Lauten halb überlagerten Worten auch Jandhis Stimme heraushören.

»Talianna, melde dich endlich! Ich weiß, daß du in der Nähe bist.«

»Das ist Zauberei!« beharrte Angella. Ihre Hand senkte sich auf das Schwert. »Sie kann uns nicht sehen! Niemand kann wissen, daß wir hier sind!«

»Sie schon«, antwortete Tally. Sie war nicht einmal besonders erschrocken. Mit der Spitze ihres Schwertes deutete sie auf den sprechenden Kasten im Gürtel der Toten. »Ein ähnliches Ding habe ich bei Jandhi gesehen.«

»Du wirst bald überhaupt nichts mehr sehen, wenn du nicht antwortest, Tally!« drang die Stimme aus dem Kasten.

Angella stieß einen krächzenden Laut aus und sprang ganz instinktiv zwei, drei Schritte zurück, während Tally den sonderbaren Apparat nur mit milder Verwunderung musterte. Offensichtlich übertrug er nicht nur Jandhis Stimme, sondern hörte auch jedes gesprochene Wort in einiger Umgebung.

»Jandhi?« fragte sie.

»Nett, daß du dich noch an mich erinnerst«, antwortete der Kasten mit Jandhis Stimme. »Wo bist du?« Tally lachte unsicher. »Eine gute Frage. Ich denke, du weißt es?«

Jandhi schnaubte ärgerlich. »Was ist mit Kehla? Ist sie tot?«

»Wenn du das Mädchen mit den beiden Hornköpfen meinst, das du hergeschickt hast – ja«, antwortete Tally.

»Hast du sie umgebracht?«

»Das war nicht nötig. Du schickst deine Leute in den Tod, Jandhi. Gib endlich auf.«

»Seltsam«, antwortete Jandhi. »Dasselbe wollte ich dir auch gerade raten. Das Versteckspiel mit dir kommt mich allmählich zu teuer. Ich habe mehr Leute bei der Jagd auf dich verloren als in den vergangen zwei Jahren beim Kampf gegen Angellas Halsabschneider. Gib auf.«

»Und wenn nicht?« fragte Tally.

»Dann töte ich dich«, antwortete Jandhi. »Ich habe den Auftrag, dich unschädlich zu machen, ganz egal, wie. Ich wollte dich lebend fangen, aber du läßt mir keine Wahl. Ich gebe dir noch genau fünf Minuten, dich zu ergeben. Kommt nach oben. Wir werden euch aufnehmen.«

Irgend etwas bewegte sich über dem Wald; etwas ungeheuer Großes und Finsteres, das die Lücke im Blätterdach für den Bruchteil eines Herzschlages verdunkelte. Und dann begriff Tally...

»Um Himmels willen!« schrie sie. »Weg! WEG HIER!« Ein sanftes, düster-rotes Glühen vertrieb die Schwärze der Nacht, als sie herumfuhr und davonstürzte, Angella und Karan einfach mit sich zerrend. Mit jedem Schritt, den sie taten, nahm es an Leuchtkraft und Gewalt zu, steigerte sich zu Orangerot, dann zu Gelb...

Die Zeit schien stehenzubleiben. Tally rannte wie von Furien gehetzt, blindlings, nur fort, fort von den drei Toten und dem sprechenden Kasten, die zu einer mörderischen Falle geworden waren. Aber das Licht und die Hitze folgten ihnen, schneller, viel schneller, als sie zu laufen vermochten. Eine brüllende Feuerwolke stieß durch das Blätterdach des Schlundwaldes, loderndheißer Drachenatem, der Holz und Blattwerk und alles Leben versengte und in Sekundenbruchteilen zu Asche verbrannte.

Eine glühende Hand schien ihren Rücken zu streicheln. Tally schrie vor Schmerz auf, ließ Angellas Hand los und fiel. Die Luft kochte. Unsichtbares Feuer verbrannte ihre Lungen, als sie zu atmen versuchte. Durch einen Schleier aus Tränen sah sie, wie die Flammenwolke tiefer in den Wald hinabstieß. Die Gestalten der beiden Hornköpfe und des Mädchens lösten sich auf, zerfielen zu Asche. Die Hitze war unbeschreiblich. Flammen züngelten aus dem Bodennetz, leckten knisternd aus Baumstämmen und Geäst und versengten Blattwerk und Blüten.

Angella riß sie in die Höhe. Ihr Haar schwelte. Ihr Gesicht war verzerrt, und Tally sah, wie sich ihre Lippen bewegten, als sie irgend etwas schrie. Die Worte gingen im Brüllen der Flammen unter. Angella versetzte ihr einen Stoß, der sie weitertaumeln ließ, fuhr noch einmal herum und riß Karan vom Boden hoch.