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»Eine Richtung gibt es noch.« Tally drehte sich langsam herum und wies erst auf Karan, dann nach unten.

»Du kennst den Weg.«

»Nein!« sagte Karan. Es klang wie ein Schrei.

Tally lächelte. Ganz langsam hob sie den Laser, richtete den Lauf auf Karans Stirn und senkte den Daumen auf das rote Auge in seinem Griff.

Für die Dauer von zwei, drei endlosen schweren Herzschlägen starrte Karan sie nur an. Und irgend etwas in ihrem Blick schien in davon zu überzeugen, daß sie es ernst meinte.

»Du weißt nicht, was du tust«, sagte er.

Tally schwieg. Und nach einigen weiteren Sekunden drehte sich Karan wütend herum und deutete auf den versteinerten Baum. »Folgt mir.«

6

Der Abstieg hatte nicht einmal sehr lange gedauert. Karan hatte sie ein Stückweit zurück in den Wald geführt, bis sie eine Stelle erreichten, an der einer der Baumgiganten gestürzt war, vom Blitz, vielleicht auch von einer der gigantischen Läufer-Kreaturen gefällt, deren Schritte sie in der ersten Nacht so in Furcht versetzt hatten. Der Baum war nicht vollends niedergebrochen: seine Äste hatten sich im Gewirr des Wipfelwaldes verfangen, so daß sie über den Stamm wie über eine schräge, mit einiger Vorsicht aber durchaus begehbare Rampe nach unten gelangen konnten.

Tally sah sich schaudernd um. Über ihren Köpfen brannte es noch immer. Der Himmel über dem Wald loderte noch immer rot im Widerschein der Flammen. Hier unten aber, hundert Meter unter der Ebene, auf die sich das Leben auf der Flucht vor dem namenlosen Schrecken des Schlundes zurückgezogen hatte, herrschte ein sonderbares, dunkelgraues Licht, das Tally mit Unbehagen erfüllte; einem fast körperlichen Unwohlsein, gegen das sie wehrlos war. Je intensiver sie versuchte, sich dagegen zu wehren, desto stärker schien es im Gegenteil zu werden. Es war ein Licht, das an Krankheit und Fäulnis erinnerte.

Sie hatte Angst.

Noch hatten sie den eigentlichen Boden nicht erreicht – Karan hatte angehalten, als der schwarze Sumpf des Grundes noch zwei, drei Schritte unter ihnen lag, und niemand, auch Angella nicht, hatte ihn zum Weitergehen gedrängt. Plötzlich verstanden sie alle, wovor Karan solch panische Angst hatte, Es waren keine Ungeheuer, keines der tausend gefräßigen Monster; die dieser Wald beherbergen mochte – es war der Wald selbst.

Was Tally oben, beim Anblick des versteinerten Baumes, schon einmal und nur sehr flüchtig gespürt hatte, das fühlte sie hier hunderttausendmal heftiger. Das Böse. Der Sumpf lag schwarz und tot und glatt wie ein Meer aus erstarrtem Pech unter ihnen, aber sie spürte das finstere, durch und durch böse Etwas, das seine trügerisch glatte Oberfläche verbarg, ein Etwas, für das es keine Begriffe in der menschlichen Sprache gab, ein Ding jenseits ihrer Vorstellungskraft, finster und lauernd und böse... Wenn es so etwas wie negatives Leben gab, dachte sie fröstelnd, dann war es das hier.

Angella berührte sie sacht an der Schulter und deutete nach rechts. Tallys blick folgte der Geste. Sie sah, daß der Boden nicht so leer war, wie Karan ihnen hatte glauben machen wollen: in einiger Entfernung erhoben sich eine Anzahl übermannshoher, bleicher Gebilde aus dem schwarzen Morast, Dinge von schwer zu erfassender Form, die sie erst nach einiger Zeit als gigantische Pilzgewächse zu identifizieren glaubte. Das unheimliche, kranke Licht, das diese bizarre Welt unter dem Wald erhellte, kam von diesen Gebilden. Irgend etwas bewegte sich im bleichen Schein der Verwesung.

»Schaut nicht hin«, flüsterte Karan, dem ihre Blicke nicht entgangen waren. »Es mag sein, daß ihr Dinge seht, die nicht gut sind.«

Weder Tally noch Angella widersprachen. Beinahe hastig sahen sie weg. Tally hatte nur noch Angst.

»Wie... geht es weiter?« fragte Angella mit zitternder Stimme. Ihre Hand schmiegte sich so fest um den Schwertgriff, daß ihre Knöchel knackten. Es war eine Geste ohne jede Bedeutung. Gegen die Gefahren, die hier unten auf sie lauern mochten, waren ihre Waffen wirkungslos.

»Es gibt... Wege durch den Sumpf«, murmelte Karan. »Aber sie sind gefährlich. Ein falscher Schritt...«

Er seufzte, drehte sich zu Tally herum und blickte nach oben. Der Wald und das gewaltige Netz schwebten wie ein geronnener schwarzer Himmel über ihnen, ein Netz aus Finsternis und braunen und grünen Strängen, durch dessen Lücken düsterroter Hammenschein wie Blut tropfte.

»Und wenn wir hier bleiben?« schlug Tally vor. Sie deutete nach unten, auf den gewaltigen Baumstamm, auf dem sie standen. »Vielleicht finden sie uns nicht.« Karan schüttelte den Kopf. »Sie werden es nicht wagen, Karan und euch hierher zu folgen«, sagte er.

»Aber hier zu verweilen, bedeutet den Tod. Ihr seid schon zu lange an einem Fleck. Nur Bewegung kann euch retten.«

Er atmete hörbar aus, drehte sich wieder herum und blickte konzentriert nach unten. Dann deutete er nach links, hinein in das schattenerfüllte graue Licht, das wie Nebel über dem Sumpf hing.

»Dort entlang. Folgt Karan. Geht genau in seiner Spur. Weicht nicht davon ab, was immer auch geschehen sollte!«

»Und wenn Karan einen Fehltritt macht?« fragte Angella nervös.

»Dann sterbt ihr mit ihm«, antwortete Karan ruhig.

»Kommt!«

Alles in Tally schien sich wie in einem entsetzlichen Krampf zusammenzuziehen, als erst Karan und dann Angella auf den Boden heruntersprangen und die Reihe an sie kam, ihnen zu folgen. Es war nicht nur einfache Angst – es war, als wehre sich ihr Körper ganz eigenständig dagegen, dem unsichtbaren finsteren Etwas auch nur nahe zu kommen, als kämpfe irgend etwas in ihrer Natur gegen das nicht-Leben an, dem sie sich näherten. Sie war Feuer, das ins Wasser getaucht werden sollte und dies spürte. Als sie den Boden berührte und bis über die Knöchel in die widerwärtige weiche Masse einsank, hätte sie am liebsten geschrieen.

»Rasch jetzt!« befahl Karan. Seine Stimme war schrill und drohte überzukippen. Im bleichen Licht der Faulpilze sah sein Gesicht aus wie das eines Toten. Tally hörte, wie Hrhon hinter ihr auf den Boden herabsprang, aber sie hatte nicht den Mut, sich herumzudrehen. Angst saß ihr wie eine unsichtbare fette Spinne im Nacken. Es war wie in einem jener entsetzlichen Alpträume, in denen sie rannte und rannte und rannte und doch genau wußte, daß sie den namenlosen Schrecken nicht abschütteln konnte, der sie verfolgte; einen Schrecken zudem, der sie einholen würde, im gleichen Moment, in dem sie sich herumdrehte und ihm ins Angesicht sah.

Sie rannten. Karan hetzte in scheinbar sinnlosem Zickzack vor ihnen her, hakenschlagend und manchmal fast grotesk aussehende Sätze und Hüpfer vollführend; Bewegungen, die Tally unter anderen Umständen zum Lachen getrieben hätten, ihre Angst aber jetzt nur noch schürten.

Eine weitere Ansammlung der formlosen grauweißen Riesenpilze tauchte vor ihnen auf, dazwischen ein Gespinst aus dünnen, totenweißen Fäden. Karan hielt direkt darauf zu, wich erst im letzten Moment zur Seite und rannte noch schneller. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt. Torkelnd und durch den morastigen Boden, der sich bei jedem Schritt saugend um seine Knöchel schloß, zu einer grotesken vorgebeugten Haltung gezwungen, hielt er auf einen der gewaltigen Baumstämme zu, die aus dem Sumpf emporwuchsen. Erst, als sie ihm ganz nahe waren, erkannte Tally die knorrigen schwarzen Wurzeln, die den ansonsten wie glattpoliert aussehenden Stamm umgaben – Karans Ziel.

Schweratmend erreichte er den Stamm, zog sich hastig auf das Wurzelgeflecht hinauf und gestikulierte ihnen, ihm zu folgen. Tally und Angella erreichten den Baum fast gleichzeitig, während Hrhon, der ohnehin ein Stück zurückgefallen war, erhebliche Mühe hatte, das Geflecht aus Wurzeln und zu Stein erstarrtem Holz zu erklimmen.

»Sind wir hier sicher?« fragte Angella.

Karan schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen sicheren Platz hier«, sagte er. »Ihr müßt Kräfte sammeln. Der Weg wird schwieriger.«