»Whiessso?» fragte Hrhon.
»Er wird jedes Mal schwieriger«, antwortete Karan. Selbst diesen wenigen Worten war deutlich anzuhören, welche Überwindung es ihn kostete, überhaupt zu sprechen. »Sprecht nicht. Spart eure Kräfte.«
»Wohin führst du uns?« wollte Angella wissen.
»Hinauf«, erwiderte Karan unwillig. »Karan bringt euch wieder nach oben, in sicherer Entfernung zu Jandhi und ihren Drachen. Wenn ihm Zeit genug bleibt, heißt das. Weiter jetzt!«
Und damit stürmte er weiter, noch deutlich und nervöser, mit noch mehr Angst als beim ersten Mal. Wieder rannten sie im Zickzack durch den Sumpf, Karans scheinbar sinnlos gewähltem Weg folgend und getrieben von einer an Panik grenzenden Furcht, die keinen sichtbaren Grund hatte, aber von Augenblick zu Augenblick schlimmer wurde. Und wieder waren es nur wenige hundert Schritte bis zum nächsten Baum, dessen Wurzeln wie eine Insel aus dem Sumpf aufragten und ihnen für Augenblicke wenigstens das Gefühl gaben, sicheren Boden unter den Füßen zu haben.
Auf diese Weise ging es weiter. Karan rannte im Zickzack von Baum zu Baum, und jedes Mal, wenn sie ihren Weg fortsetzen, schien es schwieriger zu werden. Und da war noch etwas. Tally bemerkte es im ersten Moment nicht einmal, denn die Angst wühlte wie ein entsetzlicher Schmerz in ihren Gedanken – aber das Vorwärtskommen wurde nicht nur scheinbar schwieriger, sondern ganz konkret...
Waren ihre Beine während der ersten Minuten nur bis zu den Knöcheln in den klebrigen Sumpf eingesunken, so versackte sie bald bei jedem Schritt bis an die Waden, dann darüber hinaus, schließlich bis fast an die Knie, so daß jeder einzelne Schritt mehr Kraft kostete als der Vorhergehende. Und irgend etwas näherte sich ihnen... Es war mehr als ein bloßes Gefühl, mehr als ein weiterer Schrecken, mit dem sie ihre eigene Angst narrte – es war das absolut sichere Wissen, ein heftiger und schlimmer werdendes Gefühl der Nähe, der Nähe von etwas Gigantischem, absolut Entsetzlichem, das unter dem Sumpf herankroch, langsam, aber unbarmherzig, fast im gleichen Tempo wie sie selbst, aber eben nur fast... Und sie war nicht allein mit dieser Furcht.
Auch Angellas Gesicht war vor Entsetzen verzerrt, und die Blicke, die Karan in immer kürzerem Abstand nach rechts und links warf, sprachen Bände. Sie hatten das Ungeheuer geweckt, das diesen entsetzlichen Nachtwald beherrschte, das begriff Tally plötzlich, und es kam näher.
»Wie weit... ist es noch?« keuchte Tally, als sie wieder eine der kurzen, beinahe schon kräftezehrenden Pausen einlegten.
Karan blickte nach oben. Der lebende Himmel über ihnen loderte noch immer im düsteren Rot der Brände, aber die Wut des Feuers hatte merklich nachgelassen; sie hatten den Bereich, über dem die Drachen kreisten, fast überwunden.
»Nicht mehr weit«, sagte Karan schließlich. »Sobald Karan eine Stelle findet, an der der Aufstieg möglich ist, müßt ihr es riskieren. Ihr seid schon viel zu lange hier!« Tally sah sich voller Angst um. Sie war nicht sicher, ob es wirklich das war oder ob sie nur einer weiteren Halluzination erlag – aber seit einer Weile schon glaubte sie eine schwere, wellenförmige Bewegung wahrzunehmen, die durch den schwarzen Morast lief, ein schwerfälliges Heben und Senken, das sie auf entsetzliche Weise an die Atemzüge eines gigantischen Lebewesens erinnerte... Sie sahen es alle im gleichen Moment: etwas Massiges, mehr als Mannsgroßes näherte sich ihnen, schwebend und geschwind und in fast lächerlichem Zickzack dem willkürlichen Kurs folgend, den Karan eingeschlagen hatte. Und es war nicht allein.
»Jandhi!« keuchte Angella. »Das sind Jandhis Häscher!«
Es war lächerlich – aber in diesem Moment empfand Tally nichts anderes als Erleichterung. Das riesige Etwas, das dort wie ein zu groß geratener Käfer herangetorkelt kam, war nichts anderes als ein gewaltiger, schwarzglänzender Hornkopf, ein zwei Meter langes Fluginsekt, über dessen auseinanderklaffendem Rückschild filigrane Insektenflügel schlugen. Nicht der namenlose Schrecken des Schlundes.
»Aber das ist unmöglich!« Karan schrie vor Entsetzen.
»Sie können Karans Spur nicht gefolgt sein!«
Seine Stimme schallte weit durch die umheimliche Stille des Sumpfes, und der häßliche Schädel des Hornkopfes flog mit einem Ruck herum. Seine kleinen, ausdruckslosen Facettenaugen richteten sich auf die drei Menschen und den Waga, die wie Gestrandete auf einer Insel auf der Baumwurzel saßen.
Hinter dem Hornkopf wuchsen die Schatten von weiteren fliegenden Rieseninsekten heran. Einige von ihnen wirkten buckelig und mißgestaltet, bis Tally erkannte, daß auf ihren Rücken Reiterinnen hockten. Es waren sehr viele – zwanzig, dreißig, vielleicht noch mehr. Und die Dunkelheit spie immer noch mehr und mehr aus.
»Das war's dann wohl«, sagte Angella leise. Ihr Blick streifte Tallys Hand, die ganz automatisch zum Gürtel gekrochen war. Sie schüttelte sanft den Kopf, und Tally zog die Hand zurück.
»Whenn isss sssie angreife«, zischelte Hrhon, »habht ihr vielleissst eine Sssanssse...«
»Nein!« Karan keuchte vor Schrecken. »Rührt euch nicht. Vielleicht... vielleicht ist das die Rettung.« Tally sah ihn überrascht an. Aber sie fragte ihn nicht nach der Bedeutung seiner Worte, denn die Armee der fliegenden Hornköpfe war fast heran. Kurz, bevor das erste Ungeheuer sie erreichte, schwenkte es zur Seite, wobei es gleichzeitig langsamer wurde. Seine durchsichtigen Flügel schlugen wie rasend, um den tonnenschweren Körper in der Luft zu halten. Ein unangenehmes, vibrierendes Summen erfüllte die Luft, als mehr und mehr der schwarzgepanzerten Giganten herankamen und scheinbar schwerelos in der Luft verharrten. Nach kaum einer halben Minute sahen sich Tally und die anderen einem lebenden Wall aus Chitin und drohend geöffneten Mandibeln gegenüber.
Dann teilte sich der schwankende Wall, um einem besonders großen Exemplar der fliegenden Hornköpfe Platz zu machen. In seinen faustgroßen Kristallaugen schien eine boshafte Intelligenz zu schlummern, und sein Panzer war mit leuchtenden roten und grünen Streifen verziert. Auf seinem Rücken saß eine menschliche Gestalt.
Tally spannte sich. Das Gesicht der Insektenreiterin war hinter dem geschlossenen Visier ihres Helmes verborgen, so daß sie sie nicht erkennen konnte. Aber sie war zu groß, um Jandhi zu sein. Tallys Hand kroch zur Waffe.
Die Fremde machte eine fast beiläufige, aber sehr schnelle Bewegung, und einer der Hornköpfe schoß vor. Seine Mandibeln schnappten Zentimeter vor Tallys Gesicht in der Luft zusammen. Tally zog die Hand rasch zurück. Der Sumpf unter dem Halbkreis aus schwebenden Hornköpfen begann Wellen zu schlagen.
»Ich sehe, du bist vernünftig«, sagte die Fremde. Ihre Stimme klang sehr unangenehm, denn der geschlossene Helm verzerrte sie. »Du bist Tally.«
Sie nickte.
»Du hast uns viel Ärger gemacht«, fuhr die Fremde fort. »Aber damit ist es jetzt vorbei. Steig auf!« Wieder hob sie die Hand. Ein zweiter buntbemalter Riesenkäfer schwebte herbei und näherte sich torkelnd der Wurzelinsel. Auf seinem Rücken war ein lederner Sattel befestigt.
»Was ist mit... mit meinen Freunden?« fragte Tally, ohne sich von der Stelle zu rühren.
»Was soll mit ihnen sein?« Die Fremde lachte leise.
»Wir wollen nur dich. Mit den anderen haben wir keinen Streit. Sie können gehen.«
»Ihr wollt sie hier zurücklassen?« Tally ballte in hilflosem Zorn die Faust. »Das bedeutet ihren Tod!«
»Niemand hat euch gebeten hierherzukommen«, erwiderte die Fremde unwillig. »Möglicherweise sterben sie, möglicherweise auch nicht.«
»Rede weiter«, wisperte Karans Stimme an Tallys Ohr.
»Nur ein paar Augenblicke noch!«
»Ich gehe nicht ohne die anderen!« beharrte Tally. Irgend etwas Gigantisches, Formloses kroch unter dem Sumpf heran. Hier und da glitzerte fauliges Weiß unter dem Schwarz des Morastes. »Richte Jandhi aus, wenn sie mich haben will, muß sie uns schon alle hier herausholen.« Die Frau mit der schwarzen Gesichtsmaske stieß einen wütenden Laut aus und beugte sich im Sattel vor. Ihr Fluginsekt taumelte, als sie das Gewicht verlagerte. Eines seiner Beine berührte den Sumpf.