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»Du mißverstehst deine Lage, Tally!« sagte sie wütend.

»Du hast nichts zu fordern! Ich gebe dir noch zehn Sekunden, dann erschieße ich deine Freunde – vielleicht kommst du dann mit!« Sie zog eine Laserwaffe aus dem Gürtel und legte auf Karan an, um ihren Worten den gehörigen Nachdruck zu verleihen.

Es war die letzte Bewegung ihres Lebens.

Angella schleuderte ein Messer. Die Klinge zuckte wie ein verschwommener silberner Blitz durch die Luft, traf das Handgelenk der Fremden und durchbohrte es. Die Frau schrie vor Schmerz und Schrecken auf, kippte nach hinten und fiel mithaltlos rudernden Armen in den Sumpf. Der schwarze Morast begann zu brodeln wie Säure, in die man Wasser geschüttet hatte. Einen Moment lang ragten Hände und Schultern der Fremden noch aus dem Sumpf hervor, dann war es, als packe sie eine unsichtbare Faust und zerre sie mit einem Ruck in die Tiefe. Für eine Sekunde schloß sich die schwarze Masse wie ein Leichentuch über ihr, dann...

Der Sumpf schien an einem Dutzend Stellen gleichzeitig zu explodieren. Klebriger schwarzer Morast schoß zehn, fünfzehn Meter weit in die Luft, traf die fliegenden Insekten und schleuderte sie wie Spielzeuge herum. Und aus dem Sumpf brach...

Etwas Entsetzliches.

Obwohl Tally jede Einzelheit mit geradezu phantastischer Klarheit sah, konnte sie sich hinterher nicht mehr erinnern, was sie wirklich gesehen hatte.

Es war, als weigere sich etwas in ihr, das grauenerregende Bild als wahr zu akzeptieren, weil es etwas war, das ihren Verstand zerbrechen mußte, hätte sie es wirklich erkannt.

Es war gigantisch. Ein riesiges, bleiches Etwas mit Gesichtern und Mündern und peitschenden Tentakeln, bleich wie faulendes Fleisch und tödlich, ein weißes Gewimmel wie übergroße Maden, gleichzeitig ein Körper, Arme, reißende Fänge und matte blinde Augen. Dünne, peitschende Tentakel schossen aus dem Sumpf, trafen die fliegenden Insekten und umschlangen sie, zerfetzten filigrane Flügel, zerrissen und zerbrachen Panzerplatten und Glieder und zerrten in die Tiefe, was sie nicht in der Luft zerbrechen konnten. Noch immer schoß Schlamm in die Höhe, und immer mehr und mehr der widerwärtigen weißen Madenwürmer bäumten sich auf, griffen mit schnappenden Mäulern nach den Hornköpfen und ihren Reiterinnen, töteten, zerfetzten, zerrten in die Tiefe...

»Lauft!« schrie Karan mit überschnappender Stimme. Wie von Sinnen rannten sie los. Hinter ihnen kochte der Sumpf. Die unheimliche Stille war einem Chor gellender Schreie und entsetzlicher, splitternder Laute gewichen. Schwarzer Schlamm regnete vom Himmel, und als Tally von der Wurzel heruntersprang und bis an die Knie einsank, spürte sie schrecklichen, schleimig-weichen Widerstand unter den Füßen. Etwas Helles, Dünnes zuckte aus dem Boden und wickelte sich um ihren Arm. Mit der Kraft der Verzweiflung zerfetzte sie es, streifte das zappelnde Ende angeekelt ab und hetzte weiter.

Trotz des entsetzlichen Gemetzels, dessen Zeuge sie waren, blieben sie fast unbehelligt. Die furchtbaren Angreifer schienen sich – aus einem Grund, über den Tally gar nicht erst nachzudenken wagte – einzig auf die Hornköpfe und ihre Reiterinnen zu konzentrieren. Trotzdem rannte Karan wie von Furien gehetzt, und auch Tally und Angella stolperten durch den klebrigen Morast, so schnell sie nur konnten. Selbst Hrhon, der normalerweise schon Mühe hatte, mit einem normal gehenden Menschen Schritt zu halten, fiel nicht merklich zurück. Tally warf einen Blick über die Schulter zurück, und was sie sah, ließ sie ihr Tempo noch mehr steigern. Der Morast kochte. Das stumpfe Schwarz war zu einem brodelnden Muster aus Schwarz und fauligem Weiß und widerwärtigen, sich windenden madenartigen Körpern geworden, aus dem buchstäblich Tausende von dünnen, peitschenden Tentakeln hervorwuchsen, ein zitternder Wald, der die Hornköpfe verschlang. Nur den allerwenigsten der fliegenden Insekten war die Flucht gelungen. Tally sah eines der Ungeheuer torkelnd durch die Luft schießen; in seinem Nacken etwas Großes, Weißes, das sich in seinen Leib hineinfraß.

»Dort vorne!« Karan deutete auf einen verschwommenen Umriß, der sich vor ihnen aus dem bleichen Licht zu schälen begann. Nach einigen Sekunden erkannte Tally, daß es ein Baum war, niedergestürzt und vom Wipfelwald gehalten wie der, über den sie heruntergekommen waren, nur sehr viel älter und von Fäulnis und Verwesung schon beinahe zerfressen.

Der Anblick gab ihr noch einmal neue Kraft. Keuchend stolperte sie weiter, erreichte die ersten Ausläufer der Wurzeln und zog sich daran in die Höhe. Etwas Kleines, Weißes berührte ihre Hand und huschte lautlos davon. Irgend etwas berührte ihre Wade. Tally schrie auf wie unter Schmerzen, griff mit beiden Händen zu und zog sich mit letzter Kraft in die Höhe.

Aber sie waren noch nicht in Sicherheit. Der Stamm führte in steilem Winkel nach oben, und Rinde und Holz waren so morsch, daß sie bei jedem zweiten Schritt einzubrechen drohten. Trotzdem gestattete ihnen Karan keine Rast, sondern hetzte unbarmherzig weiter, bis der Sumpf zehn, zwölf Meter unter ihnen lag. Erst dann blieb er stehen, drehte sich schweratmend um und sank erschöpft auf die Knie.

»Sind wir... in... Sicherheit?« fragte Angella schweratmend.

»Noch nicht«, stöhnte Karan. Er wollte sich aufrichten, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu und sank wieder auf Hände und Knie herab. »Aber Karan wird... es merken, wenn... wenn ein Angriff erfolgt. Ruht euch... einen Moment aus.«

Tally schwindelte. Sie hatte auf den wenigen Schritten hierher alles gegeben, was sie geben konnte. Ihr Körper war ausgepumpt, leer, aller Kraft beraubt. Und den anderen erging es nicht besser. Selbst Hrhons Schuppengesicht wirkte grau vor Anstrengung. Trotzdem stemmte sie sich mit letzter Kraft in die Höhe, kroch auf Karan zu und ergriff ihn an der Schulter.

»Was ist das hier, Karan?« stöhnte sie. Selbst diese wenigen Worte bereiteten ihr Mühe. »Was bedeutet das alles! Ich will jetzt endlich eine Antwort!«

»Später.« Karan versuchte ihre Hand abzustreifen, aber seine Kraft reichte nicht. »Karan wird euch alles erklären, aber nicht –« Er stockte. Seine Augen wurden rund vor Entsetzen, während sein Blick an Tally vorbei in die Tiefe fiel.

Tally schrie auf, als sie sich herumdrehte.

Nur wenige Schritte neben dem Baumstamm ragte eine Anzahl der fahlen Riesenpilze aus dem Boden, und zwischen ihnen, bis zur Taille im schwarzen Morast versunken und mit schmerzverzerrtem Gesicht, stand...

»Weller!«

Angellas Schrei und Tallys Bewegung waren eines. Von einer Sekunde auf die andere waren alle Furcht und Erschöpfung vergessen. Nur noch mit einem winzigen Teil ihres Bewußtseins registrierte sie, wie Karan ebenfalls aufschrie und sie festzuhalten versuchte, dann war sie herum und sprang blindlings in die Tiefe.

Der weiche Morast dämpfte ihren Sturz. Sie fiel, kam, von ihrem eigenen Schwung nach vorne gerissen, wieder auf die Füße und taumelte auf Weller zu. Über ihr begann Karan schrill und wie unter Folterqualen zu schreien; sie verstand die Worte nicht, und hätte sie sie verstanden, sie hätte nicht darauf reagieren können. Ein winziger Teil ihres logischen Denkens funktionierte noch – ein Teil, der ihr zuflüsterte, daß das, was sie zu sehen glaubte, vollkommen unmöglich war – sie waren Meilen von der Absturzstelle entfernt. Weller konnte den Sturz nicht überlebt haben, und wenn doch, so war es unmöglich, ihn hier wiederzusehen.

Aber sie stolperte blindlings weiter, unfähig, auf Karans Schreie und die drängende Stimme in ihrem Innern zu hören. Für einen Moment verlor sie Weller aus dem Blick und sah nur noch die gewaltigen bleichen Pilze. Der Boden dazwischen kochte. Etwas Schlankes, Massiges wie eine faulende weiße Schlange bewegte sich darin, ein faustgroßes blindes Auge starrte sie an. Dann sah sie Weller wieder. Er war etwas weiter in den Boden eingesunken, sein Gesicht verzerrt vor namenlosem Grauen. Und er schrie: hohe, entsetzliche Töne, wie sie eine menschliche Kehle kaum hervorbringen konnte und die sie doch verstand.