Er machte Rast, als die Hitze des Tages ihren Höhepunkt erreicht hatte und als weißheißes Schimmern von der verdorrten Erde aufstieg. Er saß im Schatten eines alten Ahornbaums, dessen breitblättrige Zweige ihn wie ein Zelt überspannten. Eichhörnchen und Vögel turnten durch die schützenden Zweige, ohne auf ihn zu achten. Sie waren mit ihren eigenen Verfolgungsjagden beschäftigt. Morgan spähte durch die Bäume hindurch zu den Hügeln und dem Grasland im Süden und Osten; er hatte das Schwert von Leah zwischen seinen Beinen aufgestellt und seine Arme über dem Heft gekreuzt. Er fragte sich, ob Wren in Sicherheit war. Er fragte sich, wo all die anderen waren, die mit ihm in dieses Abenteuer aufgebrochen und irgendwo auf dem Weg verlorengegangen waren. Einige waren natürlich tot. Aber was war mit den anderen? Er scharrte mit den Stiefeln auf dem Boden und wünschte, er könnte alles Verborgene sehen, und dachte dann, daß es vielleicht besser war, wenn er es nicht sah.
Am späten Nachmittag sank die Temperatur wieder auf erträgliches Maß ab, und er zog weiter. Die Schatten verlängerten sich erneut und strebten von den Bäumen und den Felsen und den Wasserrinnen und den Graten fort, hinter denen sie sich verborgen gehalten hatten. Die Südwache kam in Sicht, und er sah, wie ihr dunkler Obelisk sich aus den vergifteten Ebenen erhob, wo der Mermidon in den Regenbogensee mündete. Der See selbst war flach und silbrig, ein Spiegel des Himmels und des Landes, und die Farben seines Bogens waren in dem verblassenden Licht fahl und ausgewaschen. Kraniche und Reiher glitten über seine Oberfläche, er sah sie als vage Blitze von Weiß vor dem grauen Dunst einer herannahenden Dämmerung.
Er blieb stehen, um sich umzusehen, und das rettete ihm wohl das Leben.
Die Vögel waren plötzlich verstummt, und vor ihm in den Bäumen entstand Bewegung. Sie war kaum wahrnehmbar, aber dennoch war sie da, wenn auch nur fern und unbestimmt im fahler werdenden Licht. Morgan wich so lautlos wie herabsinkende Schatten ins Gestrüpp zurück und gefror an seinem Platz. Kurz darauf erschienen Schattenwesen, eines, zwei, dann vier weitere, eine Patrouille, die geräuschlos durch den Wald zog. Sie schienen keiner Spur zu folgen, sondern schienen nur zu suchen, und der Gedanke, daß sie ihren Geruchssinn zum Jagen gebrauchen könnten, ließ Morgan frieren. Sie waren noch mehrere hundert Meter entfernt und zogen an dem Hang entlang. Ihr Weg würde sie unter der Stelle, an der er sich verbarg, vorbeiführen, aber über die Spur hinweg, die er hinterlassen hatte. Er wollte davonlaufen, so schnell wie der Wind davonfliegen, aber er wußte, daß er es nicht konnte, und zwang sich zu warten. Die Jäger trugen schwarze Umhänge und Kapuzen, aber nicht das Emblem der Sucher. Hier gab es keine Verstellung, und das bedeutete, daß sie sich entweder nicht bedroht fühlten oder sich nicht darum kümmerten. Keiner diese beiden Gedanken war sehr ermutigend.
Morgan beobachtete, wie sie wie Vorboten der Nacht durch den Wald glitten und außer Sicht verschwanden.
Sofort ging er weiter, strebte schnell vorwärts, um so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und die schwarzgewandeten Jäger zu legen. Suchten sie nach ihm oder nach jemand anderem? Nach irgend jemandem vielleicht, nach allem, was ihrer Patrouille geschehen war. Vielleicht waren sie ja besorgt, daß sich noch andere dort verbergen könnten? Es war unwichtig, beschloß er schnell. Es genügte, daß sie dort draußen waren und daß sie ihn wahrscheinlich früher oder später finden würden.
Er überdachte seinen ursprünglichen Plan, konzentrierte sich auf seine Füße und wurde keinen Moment langsamer. Er würde nicht auf dieser Seite des Mermidon bleiben. Er wollte den Fluß überqueren und auf der anderen Seite warten. Von dort würde er das Ufer und den See nach Anzeichen von Damsons und Mattys Rückkehr absuchen können. Leider konnte er keine Stelle finden, von der aus er auch die Südwache im Auge behalten konnte, aber es war zu gefährlich, allzusehr in der Nähe zu bleiben. Das beste war, wenn er auf Damsons Bericht darüber wartete, was das Skree auf ihrer Reise nach Süden offenbart hatte. Dann sollte sie, wenn nötig, seine Magie ausprobieren. Das würde genügen müssen.
Er war der Südwache jetzt sehr nah und sah, daß er den Mermidon nicht erreichen konnte, ohne den Schutz der Bäume zu verlassen. Das bedeutete, daß er auf die Dunkelheit warten mußte, und die Dunkelheit war noch immer Stunden entfernt. Zu lang, um an einer Stelle zu bleiben, wie er wußte. Er kauerte sich in die Schatten und beobachtete das Land zu seinen Füßen und hielt nach einem Grund Ausschau, seine Pläne erneut zu überdenken. Der Wald wurde vom Runne aus lichter und erstreckte sich so gen Süden, daß auf den Ebenen, die sich östlich zum Fluß hin erstreckten, keine Deckung gegeben war. Er knirschte vor Enttäuschung mit den Zähnen. Es war zu riskant, er durfte es nicht versuchen. Er würde in die Berge zurückgehen und versuchen müssen, einen Paß zu finden, der nach Osten führte, oder den ganzen Weg zurückgehen müssen, den er gekommen war. Das war unmöglich, die erste Route aber gefährlich.
Aber noch während er über die Alternativen nachdachte, bemerkte er neuerliche Bewegung in den Bäumen vor sich. Erneut gefror er an seinem Platz und suchte die Schatten ab. Er hatte sich vielleicht geirrt, sagte er sich. Es schien dort nichts zu sein.
Dann trat eine Gestalt in einem schwarzen Umhang kurzzeitig ins Licht, bevor sie wieder verschwand.
Schattenwesen.
Er zog sich hastig in den tiefen Schutz der Bäume zurück, und sein Geist arbeitete fieberhaft. Er kehrte um, um sich höher in die Felsen hinaufarbeiten zu können. Er würde nach einem Paß durch den Runne suchen müssen. Wenn es ihm jedoch nicht gelang, einen Weg hindurch zu finden, würde er im Schutz der Dunkelheit zurückgehen müssen. Der Gedanke, bei Nacht dort draußen zu sein, während die Schattenwesen noch immer nach ihm suchten, gefiel ihm nicht, aber er hatte auf einmal keine andere Wahl mehr. Er zwang sich, tief und langsam zu atmen, während er durch die Bäume zurückging und versuchte, ruhig zu bleiben. Es waren hier zu viele Schattenwesen auf der Jagd, als daß es etwas anderes sein konnte als eine bewußte Suche nach ihm. Irgendwie hatten sie herausgefunden, wo er war, und kreisten ihn ein. Er spürte, wie sich seine Kehle verengte. Er hatte an diesem Tag einen Kampf überlebt, aber er fühlte sich bei der Aussicht, einen weiteren überstehen zu müssen, nicht sehr wohl.
Der Sonnenuntergang näherte sich, und der Bergwald versank in windstiller Ruhe. Er bewegte sich methodisch und geräuschlos, denn er wußte, daß jedes kleine Geräusch ihn verraten konnte. Er spürte, wie das Gewicht des Schwertes von Leah auf seinen Rücken drückte, und widerstand der Versuchung, nach ihm zu greifen. Es war dort, wenn er es brauchte, sagte er sich – und er hoffte inständig, daß er es nicht brauchen würde.