Es gab keinerlei Diskussion darüber, was sie als nächstes zu tun hatten. Sie hatten ein gemeinsames Ziel, sogar Matty Roh. Sie packten ihre Ausrüstung zusammen und brachen erneut gen Norden auf, strebten über das Grasland hinweg dem Regenbogensee und dem Land jenseits des Sees zu und bereiteten sich auf eine Konfrontation mit den Schattenwesen und Felsen-Dall vor. Morgan Leah würde dort auf sie warten, und mit ihm zusammen wollten sie eine weitere Befreiungsaktion versuchen. Sie würden vier sein, wenn es an der Zeit wäre, ihren Feinden entgegenzutreten, und hatten Unterstützung von ihren Talismanen und ihren geringfügigen Magien, von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit und von wenig mehr. Was sie vorhatten, war mehr als nur ein wenig verrückt, aber sie hatten die Vernunft schon vor langer Zeit zurückgelassen. Sie nahmen es hin, daß sie sich wieder einem neuen Tag im Osten näherten, dessen schwaches Schimmern den verdunkelten Horizont mit goldenen Streifen überzog. Sie nahmen es hin, daß sie jenen Weg beschritten, auf dem die unterschiedlichsten Richtungen ihres Lebens sie zu einer Kreuzung geführt hatten, von der ab sie ein gemeinsames Schicksal teilen würden. Es gab Unausweichlichkeiten im Leben, die man nicht ändern konnte, wie sie wußten, und dies war sicherlich eine davon.
Sie hofften, während jeder von ihnen schweigend dieselben Gedanken wälzte, daß diese besondere Unausweichlichkeit zu etwas Gutem führen würde. Morgan Leah hatte kaum Zeit, nach Luft zu schnappen.
Der Angriff war so schnell und unerwartet gekommen, daß er am Boden war, bevor er auch nur daran denken konnte, sich zu wehren. Die Hand war noch immer fest auf seinen Mund gepreßt, während eine Gestalt in einem dunklen Umhang sich anstrengte, ihn festzuhalten. Er hatte sein Schwert verloren und damit den einzigen Gegenstand, der ihm hätte helfen können, und er war so erstaunt darüber, daß er unvorbereitet erwischt worden war, daß er in der Art eines kleinen Tieres, das in einer Falle gefangen wird, erstarrte, obwohl sein Geist ihm zuschrie, er müsse sich bewegen. Seine Kehle verengte sich, und er hörte auf zu atmen. Er wußte, daß er tot war.
Ein großes, pelziges Gesicht schob sich nah an seines heran, als wollte es neugierig ergründen, welche Art Lebewesen er sein könnte, und die leuchtenden gelben Augen einer Moorkatze blinzelten zu ihm herab.
»Ruhig, Hochländer«, flüsterte eine vertraute Stimme sanft und tröstlich in sein Ohr. »Du bist in Sicherheit. Ich bin es nur.«
Die Hand wurde fortgenommen, und Morgan sog schnell und unregelmäßig die Luft ein. Er spürte, wie sich die Verspannungen in seinem Körper lösten und die Kälte aus seinem Magen verschwand. »Still jetzt«, flüsterte die Stimme. »Sie sind noch immer in der Nähe.«
Dann verschwand das Katzengesicht, und er erkannte Walker Boh.
31
Stresa kam erst zu Wren Elessedil, als die Dämmerung schon fast hereingebrochen war. Sterne standen am samtigen schwarzen Himmel, und der Wald war voller Schatten. Nur ein schwacher Lichtstreifen im Osten verkündete das Herannahen des neuen Tages. Aufgeregt und erleichtert erhob sie sich, als er erschien. Sie hatte die ganze Nacht lang auf ihn gewartet, obwohl er ohne weiteres auch noch einen weiteren Tag hätte entfernt sein können. Mit dem Hörvermögen der Elfen hatte sie seine Bewegungen schon registriert, bevor er aus dem Dunkel herankam, daher rief sie ihn.
»Stresa«, flüsterte sie. »Hier drüben.«
Er walzte bereitwillig heran, die Stacheln an seinen muskulösen Körper angelegt, die Schnauze angehoben, um die Luft zu schmecken, und die Augen wie Kerzen schimmernd.
»Ich kann dich ganz gut sehen, Elfenkönigin«, murmelte der Stachelkater, während er zu ihr herankam. »Und auch ganz gut hören.«
Wren lächelte beim Klang seiner Stimme. Es war noch keine drei Tage her, daß sie gefürchtet hatte, sie würde sie niemals wieder hören. Daß sie Tib Arne und Gloon so knapp entkommen war, hatte ihr eine neue Wertschätzung vieler Dinge ermöglicht, die sie einst für selbstverständlich erachtet hatte. Es war seltsam, daß man plötzlich besser hört, wenn das Flüstern des Todes erklingt. Sie fragte sich, wie viele Male sie ihm wohl noch lauschen mußte, bevor sie sich an ihre Lektion erinnern würde.
»Was hast du gefunden?« fragte sie ihn und kauerte sich hin, damit sie sein Gesicht besser sehen konnte.
Stresa witterte. »Einen Weg hinein für sie und einen hinaus für uns. Phffftt. Es kann gelingen.« Er sah sich um. »Wo ist der sstttpp Baumschreier?«
Sie machte eine Handbewegung. »Er wartet bei den anderen. Ich wollte nicht, daß jemand unser Gespräch mithört. Seltsam, wieviel besser er und ich uns jetzt verständigen können.«
Die Stacheln des Stachelkaters richteten sich auf und legten sich wieder an. »Das ist kaum eine Leistung. Baumschreier haben nicht viel zu sagen. Hsssttt. Halte dich mit deinen Verständigungsbemühungen zurück, Elfenkönigin.«
Sie verbiß sich ein Lächeln, um ihn nicht zu ermutigen. »Also können wir es tun, du und ich?«
»Hier ist nicht Morrowindl, und die Brakes sind nicht der In Ju. Natürlich können wir es tun. Sppptt!« Er spie aus. »Die Idee hätte mir selbst kommen sollen.«
Kaum drei Tage waren seit ihrer Flucht vor den Schattenwesen vergangen, und Wren schickte sich wieder an, sie herauszufordern. Sie war mit Tiger Ty zum Lager geflogen und war von den Elfen der Vorhut mit freudiger Erregung begrüßt worden. Sie lagerten noch immer in den Randgebieten des Waldes von Drey, beobachteten den kontinuierlichen Vormarsch der Föderationsarmee und lenkten die Südländer ab, wenn sie sich ihrer Deckung näherten, während sie auf Barsimmon Oridio und die Hauptmacht der Elfenarmee warteten. Desidio war bei seiner Begrüßung sehr überschwenglich gewesen und hatte ihr geradeheraus gesagt, daß die Elfen ihre Führung brauchten und er sich ihrem Befehl unterstellte. Damit sagte er in diesem einzigen Moment mehr, als er die ganze Zeit über gesagt hatte, seit sie Arborlon verlassen hatten. Triss war auf sie wütend gewesen und hatte ihr erklärt, daß sie sich mit ihrer Impulsivität ihre Entführung selbst zuzuschreiben hatte, hatte sie gewarnt, daß sie niemals ohne die Bürgerwehr fortgehen sollte, daß sie vor allem niemals ohne seine persönliche Begleitung fortgehen sollte. Sie hatte beide mit einem Handschlag und der Zusicherung begrüßt, daß sie ein solches Risiko nie wieder auf sich nehmen würde – obwohl sie wußte, daß sie eine solche Absicht sehr wohl hatte.
In ihrer Abwesenheit war die Vorhut fleißig gewesen. Desidio und Triss hatten alle strategischen Differenzen beseitigt, um weiterführen zu können, was sie so erfolgreich begonnen hatte, und hatten, nachdem sie gefangengenommen worden war, nachts einen zweiten Überfall auf die Föderation durchgeführt, hatten die Vorräte und Wagen in Brand gesteckt, das Vieh vertrieben, schlafende Gruppen gestört und alles getan, was ihnen einfiel, um ihren Feinden Unbehagen und Verwirrung zu verschaffen und sie am Weiterziehen zu hindern. Mit dem Tode Erring Rifts war die Befehlsgewalt über die Flugreiter auf Tiger Ty übergegangen, denn der war der erfahrenste von ihnen und ein Anführer, mit dem sie sich wohl fühlten. Tiger Ty, schroff und rauh, aber der Herausforderung gewachsen, hatte die Flugreiter ausgesandt, damit sie die Landelfen unterstützten. Die Föderationsarmee war diesmal besser vorbereitet gewesen, aber noch immer nicht gut genug, um Schaden an den Vorräten und am Vieh zu verhindern. Die Elfen hatten dieses Mal mehr als ein Dutzend Männer verloren, aber die Truppen der Föderierten waren erneut zum Halten gezwungen worden und mußten ihren Marsch so lange unterbrechen, bis die Pferde sich erholt hatten, Nahrung und Wasser besorgt und ihre Verwundeten behandelt worden waren.