Barsimmon Oridio hatte das Tal von Rhenn erreicht und begann ihnen durch das Tal hindurch entgegenzuziehen. Boten waren ihnen von dem alten Befehlshaber gesandt worden, die ankündigten, daß Hilfe unterwegs sei. Desidio und Triss hatten die Boten mit Grüßen von der Königin wieder zurückgesandt, denn sie waren nicht bereit, gerade jetzt zu zeigen, daß die Elfenkönigin selbst vermißt wurde. Außerdem waren sie nicht darauf vorbereitet gewesen, einzugestehen, daß sie unauffindbar war, vor allem nicht, nachdem sie entdeckt hatten, was mit Erring Rift und Grayl passiert war. Wren erkannte erfreut, daß sie ihr Verschwinden geheimgehalten hatten.
Aber sie hatte bereits beschlossen, daß die Vorhut mehr tun mußte, als nur auf die restliche Armee zu warten. Sie hatte es während des Fluges vom Grasland her überdacht. Ihr Körper war von dem Kampf mit Tib Arne und Gloon erschöpft gewesen, aber ihr Geist war seltsam scharf und klar. Sie wußte, was getan werden mußte, und zwar ungeachtet alles anderen, was geschah. Die Kriecher mußten aufgehalten werden. Sie würden die Föderationsarmee jetzt sicherlich bald einholen, da sie aus dem Tirfing heraus und über den Mermidon hinweg und in das Grasland östlich des Pykon gelangt waren. Sie würden in wenigen Tagen herangekommen sein und sich mit ihren Verbündeten bei der Jagd nach den Elfen zusammenschließen können. Wenn das geschah, war alles vorbei. Die Elfen konnten sich nicht gegen die Kriecher verteidigen, weder von ihrer Anzahl noch von ihrem Können oder ihrer Kraft her, und die Schattenwesen würden sie durch alle Westlandwälder hindurch bis nach Arborlon verfolgen und ihnen ein schnelles Ende bereiten.
Sie hatte versprochen, daß sie das verhindern würde, und sie hatte an Morrowindl und die Wesen, die sie dort gejagt hatten, zurückgedacht und dann wieder an die Wesen, die während all der Jahre, in denen sie den Druiden gedient hatten, Ohmsfords gejagt hatten, und überraschenderweise, unerwarteterweise hatte sie die Antwort gefunden, die sie brauchte.
Aber sie würde dadurch erneut in Gefahr geraten, und sie würde erneut die Elfensteine gebrauchen müssen.
Sie hatte Tiger Ty, Triss und Desidio noch in derselben Nacht von ihrem Plan erzählt, und alle drei waren entsetzt gewesen. Sie hatten sie gebeten, diesen Plan aufzugeben und sich etwas anderes auszudenken, eine andere Taktik zu versuchen. Sie hatten sie angefleht, darüber nachzudenken, was es für die Elfen bedeuten würde, wenn sie erneut verschwände – und wiederum aus eigenem Antrieb. Aber sie hatte ihnen mit Vernunft und harten Tatsachen, mit Stärke und Willen ihre Argumente entgegengehalten, und am Ende waren sie gezwungen gewesen, ihre Entscheidung zu akzeptieren, wie widerwillig auch immer. Es war ihnen allerdings gelungen, sie zu einer Konzession zu überreden – Tiger Ty und Triss würden mit ihr gehen, so lange es irgend möglich war.
Das war vor zwei Tagen gewesen. Sie war am selben Tag mit Triss, Tiger Ty, fünfzig Angehörigen der Bürgerwehr und einem halben Dutzend Flugreitern nach Süden gezogen. Die Rocks hatten die Bürgerwehr in den großen Körben mit sich getragen, hatten sich geschickt im Schutz der Bäume und Berge gehalten, wo sie von den Ebenen aus nicht gesehen werden konnten, und Wren war mit Tiger Ty geflogen. Sie hatte aber zuvor Faun in den Wald von Drey geschickt, damit er Stresa ausfindig machte und zu ihr brachte. Sie hatte dem Stachelkater gesagt, was sie vorhatte, und weil so vieles von ihm abhing, hatte sie auf seine Zusicherung gewartet, daß ihr Plan durchführbar wäre. Als er bestätigt hatte, daß dies der Fall war, hatte sie ihn hochgenommen, ihn auf Spirits Rücken festgegurtet, Faun in ihrem Gepäck verstaut, und dann erst waren sie aufgebrochen.
Desidio und die restliche Vorhut waren nach Norden gesandt worden, um sich mit Barsimmon Oridio zu treffen und auf ihre Rückkehr zu warten.
Das war vor zwei Tagen gewesen. Sie waren die ganze Nacht weitergezogen, um bis zu diesem Punkt zu gelangen, und hatten den ersten dieser beiden Tage ohne Schlaf verbracht. Sie hatten statt dessen alles erkundet.
Sie schüttelte den Kopf, schaute in die dunklen Bäume, roch Moos und Rinde und Wildblumen und wunderte sich darüber, daß so vieles in so kurzer Zeit geschehen konnte. Sie hörte, wie Stresa sich in der Dunkelheit vor ihr rastlos bewegte, und sie schaute wieder zurück.
»Hast du das Wesen gefunden?« fragte sie ihn, denn sie wußte nicht, wie sie es sonst hätte nennen sollen.
»Hssstt.« Stresa lachte. »Nicht das Wesen, Wren Elessedil. Die Wesen! Anscheinend hat es in dreihundert Jahren einige Veränderungen gegeben. Jetzt gibt es mehr als nur das eine.«
Aber vielleicht gab es sie ja immer schon, und nur eines war jemals gesehen worden, dachte sie plötzlich. Sie erhob sich und beobachtete das Herannahen des neuen Tages. Vor ihm, im Osten, warteten die Flugreiter und die Bürgerwehr und jenseits von ihnen, irgendwo im Grasland, die Kriecher. Hinter ihr, im Westen, lagen die Matted Brakes.
Mehr als eines. Nun denn.
»Warte auf mich, Stresa«, befahl sie, erhob sich erneut, denn es drängte sie, endlich zu beginnen. »Das Tal öffnet sich in ein weiteres kleines Tal, das sie genau hierherbringen wird. Es wird sicher nicht mehr lange dauern.«
Stresa wandte sich um und trat wieder in die Schatten zurück. »Ich werde ein wenig schlafen. Ich bin müde von all diesem Hin und Her. Es stinkt in den Brakes, weißt du. Pfffttt. Paß auf dich auf, bis du wieder hierher zurückkommst, Königin der Elfen.«
Sie ließ ihn schweigend gehen, wandte sich dann in östlicher Richtung den Bäumen zu und ging in das heller werdende Licht der Dämmerung hinein. Der Wald war hier lichter, und das kleine Tal, das sie erwähnt hatte, war ein breites Becken unterhalb der Höhenzüge, auf denen ablaufendes Wasser und Wind fast allen Bewuchs hinweggefegt hatten. Sie fand Faun fast sofort, und das kleine Wesen sprang ihr auf die Schulter und blieb dort sitzen, während sie durch die Bäume schritt. Der Plan würde funktionieren, sagte sie sich, und um sicherzugehen, ging sie ihn im Geiste noch einmal durch. Der Ablauf war denkbar einfach. Die Durchführung würde entscheidend sein. Und die Durchführung lag fast vollständig bei ihr.
Sie wanderte in das Tal hinab, folgte dem nördlichen Hang, wo die Schatten im zunehmenden Licht am tiefsten waren, und spähte über die jenseitigen Ebenen hinaus, wo ein leichter Dunst verbarg, was dort lag. Zur Vorbereitung hatten sie am Tag zuvor alles sorgfältig ausgekundschaftet. Die Bürgerwehr kannte das Gelände gut genug, um Vorteil daraus zu ziehen, und die Flugreiter hatten Verstecke in den Bäumen nahe der Brakes gefunden. Spiele in Spielen, dachte sie. Räder in Rädern. Sie dachte an Morrowindl zurück, wo sie gelernt hatte, mit den Schattenwesen Katz und Maus zu spielen und alles Wissen der Fahrenden, das Garth sie gelehrt hatte, anzuwenden. Sie dachte, wie weitsichtig ihre Mutter und ihr Vater gewesen waren, als sie sie in Garths Obhut gegeben hatten, weil sie wußten, welches Leben sie eines Tages würde führen müssen. Es war selbst jetzt noch seltsam, wenn sie dachte, wie vieles für sie aufgegeben worden war, aber es war nicht mehr so schwer, dies anzunehmen. Das Leben delegierte Verantwortlichkeit, wie es erforderlich war, und niemals zu gleichen Anteilen. Der Trick lag darin, nicht ängstlich zu werden, wenn man erfuhr, daß es so war.
Faun schnatterte leise in ihr Ohr, und sie griff aufwärts, um sein flaumiges Fell zu streicheln. Wir müssen uns umeinander kümmern, dachte sie bei sich. Wir müssen lehren und lieben, wenn das Leben eine wirkliche Bedeutung haben soll. Aber zuerst müssen wir leider einen Weg finden, trotz dieser Wesen zu überleben, die uns daran hindern wollen, dies zu tun.