Wie bei so vielen Dingen waren die Antworten auf die Gegenwart in der Vergangenheit verwurzelt, und in diesem Falle in den Liedern von Par Ohmsford und den Legenden der Shannaravorfahren.
Mit Stresa als Führer und Triss als Begleiter lockte sie die Schattenwesen tiefer in den Sumpf und verhinderte geschickt, daß sie jemals erkannten, daß sie keine Armee mehr jagten, sondern nur ein Mädchen, einen Mann und ein Wesen aus einer anderen Welt. Sie ließ das Feuer der Elfensteine in ihre Körper hineinschießen und in die Erde, über die sie hinwegtaumelten, in die Bäume mit ihren Weinranken und dem Moosbewuchs und in das übelriechende grüne Wasser um sie herum. Sie benutzte das Feuer, um sie zu verwirren und zu verärgern, um ihr Gleichgewicht und den Zweck ihrer Jagd zu stören. Einst hatte sie Angst gehabt, die Elfensteine zu gebrauchen. Aber das schien vor langer Zeit gewesen zu sein, so weit entfernt wie das Leben, das sie vor ihrer Reise nach Morrowindl und der Entdeckung ihres Vermächtnisses gekannt hatte. Sie war von ihren Ängsten befreit worden, als sie ihr Geburtsrecht als Königin der Elfen angenommen und ihr Volk aus Morrowindl herausgebracht hatte. Die Magie war jetzt eine Erweiterung ihrer selbst, ein Teil des Erbes, das ihr von ihrer Großmutter hinterlassen worden war, Feuer, das vom Blut ihrer Vorfahren gekommen war, um sie vor allem zu schützen, was auch immer sie bedrohen würde. Wenn sie nur stark war, so glaubte sie, konnte ihr kein Schaden zugefügt werden.
Der Tag klarte auf und ging dem Mittag zu. Sie aßen und tranken, wenn sie auf ihrer Flucht haltmachen konnten. Es waren kurze Aufenthalte, um darauf zu horchen, daß ihre Verfolger ihnen auch wirklich noch folgten. Die Brakes verdichteten sich zu einem Morast wirrer Wurzeln und Bäume, deren Zweige tief herabhingen, stillen, unergründlichen Wassers und Treibsands, der einen Menschen im Handumdrehen verschlingen konnte. Stresa wählte seinen Weg mit Sorgfalt, suchte den festen Boden und ging stetig voran. Zweimal holten die Kriecher sie unerwarteterweise ein, einmal bei einem Schlenker, durch den sie fast gefangen worden wären, das zweite Mal bei einem Angriff, der die eisenverkleideten Schrecken so schnell durch den Wald heranbrachte, daß sie beinahe zertreten worden wären. Der Sumpf schien keine abschreckende Wirkung auf sie zu haben. Die Kriecher durchquerten ihn, als bestünde er aus festem Untergrund. Wren konnte nicht sagen, ob einer verlorengegangen oder umgekehrt war. Sie hoffte, daß es nicht so war. Sie hoffte, daß sie sie noch alle hinter sich hatte und daß sie sie jagten. Sie waren zu diesem und keinem anderen Zweck geschaffen worden, und sie betete, daß ihr Instinkt sie auch dann noch weiter vorantreiben würde, wenn vernünftigere, weniger kräftige Wesen umkehrten.
Es war kurz nach Mittag, als sie den See erreichten.
Sie verlangsamten ihren Schritt, als sie herankamen, und veränderten ihre Bewegungen, um sich möglichst leise zu nähern. Hinter ihnen hallten die Geräusche ihrer Verfolger hart und bedingungslos durch den höhlenartigen Wald. Sie kamen schnell näher. Der See war riesig, voll von abgestandenem grünen Wasser und so still wie ein Grab. Er erstreckte sich in eine Nebelwolke hinein, die über ihm hing wie ein Leichentuch. Das Ufer verschwand zu beiden Seiten im Nebel, und die gegenüberliegende Seite war vollständig verborgen. Weinranken und Moos hingen wie Schleier von den umstehenden Bäumen herab, und wirres Wurzelwerk wand sich schlangengleich ins Wasser hinab. Rundum war Stille. Keine Vögel, keine Insekten, keine Fische, nicht einmal das Flüstern einer Brise störte das Schweigen. Hier stand die Zeit still, und das Leben gefror an seinem Platz. Alles verharrte in stummer Erwartung.
Hier, dachte Wren und hielt unwillkürlich den Atem an. Hier wird es beendet werden.
Aber es war keine Zeit für weitere Überlegungen. Die Kriecher kamen heran, walzten durch den Sumpf, zerschlugen und zerhackten und zerstörten, was nicht weichen wollte. Stresa wandte sich bereits nach rechts, wo das Ufer zu einem schmalen Streifen Land in die Mitte des weiten Sees hinausführte. Wren und Triss eilten ihm nach. Sie betraten die Brücke aus Erde und Wurzeln und begannen auf die Nebelwand zuzugehen. Wren schaute einmal zum Himmel. Sie erlaubte sich dies zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen waren. Aber der Himmel war leer. Es war noch nicht soweit. Sie eilten weiter, traten leicht und leise auf und lauschten auf die Geräusche der Kriecher. Sie schaute über den See hinaus und suchte nach den Wesen, aber außer der glatten, undurchdringlichen Oberfläche war nichts zu sehen.
Sie hatten die Nebelwand fast erreicht, als die Kriecher aus dem Wald auftauchten und ruckartig stehenblieben. An ihren eisenbewehrten Körpern hingen Weinranken, und sie dampften vor Hitze. Sie walzten alles in ihrer Nähe nieder, während sie sich am Ufer des Sees zusammendrängten. Die Sucher waren noch immer bei ihnen. Als sie Wren erblickten, begannen sie ihr schnell zu folgen.
»Dort«, zischte Stresa plötzlich und wandte den Kopf ruckartig nach links.
Sie schaute hin und sah den Grat, der aus dem Wasser herausragte und wie verkrusteter Fels mit dichtem Moos- und Flechtenbewuchs aussah, so lange man nicht die beiden Dampfstrahlen sah, die von einem Ende aufstiegen, und erkannte, daß man Atemlöcher betrachtete. Zwei von ihnen waren dort, und drüben, fast im Nebel verborgen, ein weiteres. Die Wesen waren noch immer hier, genau wie zu Zeiten Wil Ohmsfords, Monster aus den Tiefen der Matted Brakes.
Stresa ging erneut voran, und sie eilte ihm nach und bemühte sich, nicht zu laufen, sondern versuchte statt dessen, sich so leise zu bewegen, wie eine Wolke am Himmel vorüberzog. Tu nichts, um sie zu stören, sagte sie sich. Laß sie noch ein wenig länger schlafen. Der Nebel hüllte sie ein, aber er war nicht dicht genug, um sie vor den Wesen, die sie verfolgten, zu verbergen. Die Kriecher befanden sich jetzt ebenfalls auf der Brücke, stellte sie fest, als sie schnell zurückschaute.
Aber nur zwei von ihnen!
Sie blieb abrupt stehen und zischte Stresa und Triss zu, sie sollten auf sie warten. Zwei waren nicht genug! Sie brauchte sie alle! Sie wirbelte herum, nahm die Elfensteine hervor und hielt sie vor sich hin. »Nein!« hörte sie Stresa rauh aufschreien. Aber sie sandte das Feuer dennoch aus, ließ es über das stille Sumpfwasser fliegen und in die Kriecher prallen, die am Ufer kauerten. Sie schleuderte Flammen in sie hinein wie Pfeile, die alles verbrannten und versengten. Die Kriecher wichen zurück und krallten sich in die Erde. Sie spürte, wie sich im See etwas rührte. Noch nicht! Die Kriecher am Ufer taumelten umher, und ihre schwarzgewandeten Wärter versuchten sie zu beruhigen. Einer der Sucher verschwand schreiend unter einem Gewirr von Eisenklauen.
Leichte Wellen breiteten sich langsam über das schillernde, grüne Wasser aus. Wren atmete tief ein. Ruhig, ruhig!
Dann schlug sie erneut zu, das Elfenfeuer prallte in die Kriecher, und dieses Mal kamen sie alle auf sie zu und donnerten in einem wütenden Angriff auf die Brücke.
Jetzt war überall in dem See Bewegung. Wren bemerkte ein langsames Verlagern der Grate, eine Versammlung dunkler Umrisse und sah das alles aus den Augenwinkeln, während sie hinter Triss und Stresa hereilte. Sie sah sie plötzlich auf beiden Seiten und dann auch vor sich und hinter sich, und sie erkannte die Gefahr, in der sie schwebte. Wenn die Wesen jetzt angriffen, würde keiner von ihnen davonkommen. Es waren Monster des Sumpfes, älter als die Brut von Schattenwesen und so unerbittlich wie die Zeit. Ihnen hatte sie die Kriecher zugeführt. Sie waren schon dort gewesen, als Wil Ohmsford und Amberle Elessedil die Brakes auf der Suche nach dem Blutfeuer vor mehr als dreihundert Jahren durchquert hatten. Sie hatten zwei der Elfenjäger verschlungen, die gesandt worden waren, um den Talbewohner und die Frau zu schützen. Sie hoffte jetzt, daß sie auch die Kriecher verschlingen würden.