Einen Schritt seitlich hinter ihnen dachte Morgan Leah, daß ihre Chancen bei diesem Wagnis selbst mit all den Talismanen, die sie bei sich trugen, und den Magien, die sie zur Verfügung hatten, gering waren. In Tyrsis, als sie Padishar Creel gesucht hatten, waren sie vielen Widrigkeiten ausgesetzt gewesen, aber hier gab es noch mehr davon. Sie würden dies sicher nicht alle überleben, dachte er. Der Gedanke gefiel ihm nicht, aber er war unentrinnbar da und flüsterte leise in seinem Unterbewußtsein. Er fragte sich, ob es möglich war, daß er hier sterben sollte, nachdem er so vieles überlebt hatte – die Grube, den Jut und Eldwist und all die Monster, die dort überall gelebt hatten. Es schien irgendwie lächerlich. Dies war das Ende ihrer Suche, der Abschluß einer Reise, die ihnen außer ihrer Entschlossenheit weiterzumachen alles genommen hatte. Daß sie hier sterben sollten, war nicht richtig. Aber er wußte auch, daß es möglich war.
Damson Rhee dachte an ihren Vater und an Par und fragte sich, ob sie wohl beide verloren hatte, nachdem sie sich entschlossen hatte, Par allein auf die Suche nach Coll gehen zu lassen, als dieser unerwarteterweise wieder unter den Lebenden erschienen war. Sie fragte sich, ob der Preis für ihre Wahl ihrer beider Leben sein würde, und sie beschloß, daß sie, wenn ihr Tod der Preis für diese Wahl sein sollte, ihn nur bezahlen wollte, wenn sie den Talbewohner noch einmal gesehen hatte.
Neben ihr fragte sich Matty Roh, wie stark die Magie war, die der Druide ihr gegeben hatte, ob sie ausreichte, um den dunklen Wesen zu widerstehen, denen sie gegenübertreten würden, und ob sie es ihr ermöglichen würde, sie zu töten. Sie glaubte, daß es so war. Sie spürte einen Hauch der Unbesiegbarkeit um sich herum. Sie war, wo sie sein sollte. Ihr Leben hatte in diese Zeit und zu diesem Ort und zur Auflösung vieler Dinge geführt. Sie freute sich darauf zu erfahren, was es erbringen würde.
Während er sich seitab in der Dunkelheit hielt und als hagerer Schatten durch das Vordämmerungsgras tappte, dachte nur Ondit nichts. Er blieb unberührt von menschlichen Ängsten und Überlegungen und wurde nur von Instinkten getrieben und erregt durch das Wissen, daß sie auf der Jagd waren.
Sie glitten durch die Dunkelheit und kamen in Sichtweite des dunklen Turms, doch sie hielten nicht inne, um ihren Plan erneut zu überdenken, nicht einmal um zu schauen, sondern drängten schnell weiter, damit sie ihn erreichten, bevor Ängste und Zweifel sie lahmlegen würden. Die Südwache erhob sich undeutlich und nebelhaft aus dem Dunst. Sie wirkte, als sei sie etwas aus der Nacht Geborenes, das Gefahr lief, mit dem Herannahen der Dämmerung wieder zu verschwinden. Sie ragte unveränderlich und starr auf, der schwärzeste Turm, den der Schlaf jemals hervorgebracht hatte, wie eine Intensivierung des Bösen, die bewirkte, daß die Seele sogar dann schon vergiftet wurde, wenn man nur in ihre Nähe kam. Sie konnten ihre Schwärze spüren, während sie sich näherten, ihren Zweck und das Ausmaß ihrer Macht. Sie konnten sie atmen und beobachten und lauschen spüren. Sie konnten ihr Leben spüren.
Walker führte sie zu den Mauern, wo sich die Obsidianoberfläche glatt und schwarz aus der Erde erhob, und legte seine Hände an den Stein. Er pulsierte warm und feucht wie ein Lebewesen und streckte sich aufwärts, als suche er Erlösung. Aber wie konnte das sein? Der Dunkle Onkel dachte erneut über die Beschaffenheit des Turmes nach, drängte dann an seinen Mauern entlang voran, um einen Weg hinein zu finden. Er streckte die Fühler seiner Magie aus, um die dunklen Bewohner des Turms zu orten, aber sie waren alle beschäftigt und sich seiner Anwesenheit noch nicht bewußt. Er zog sich schnell zurück, denn er wollte sie nicht alarmieren, und ging dann vorsichtig weiter.
Sie kamen zu einem Eingang in einer gewölbten Nische, der einen breiten Steinkeil abschirmte, der sich als Tür entpuppte. Walker betrachtete die Tür, betastete ihre Ränder und suchte ihre Fugen. Sie konnte aufgebrochen werden, sagte er sich, die Schlösser konnten gelöst und die Tür geöffnet werden. Aber würde das Zerbrechen sie nicht zu schnell verraten? Er schaute zu den anderen zurück, den beiden Frauen, dem Hochländer, dem Talbewohner und der Moorkatze. Sie mußten Par erreichen, ohne entdeckt zu werden. Sie mußten möglichst viel Zeit gewinnen, bevor sie kämpfen mußten.
Er beugte sich nah zu ihnen heran. »Haltet mich fest. Laßt mich nicht gehen, und rührt euch nicht vom Fleck.«
Dann schloß er die Augen und verließ in Geistergestalt seinen Körper, um in den Keep hineinzugelangen. In der düsteren Beschränktheit seiner Gefängniszelle kauerte Par Ohmsford auf seinem Bett und versuchte sich zusammenzuhalten. Er war jetzt verzweifelt, denn er fühlte sich, als würde ein weiterer Tag in dem Turm sein Ende bedeuten, als würde ihn ein weiterer Tag, an dem er sich fragte, ob die Magie ihn unwiderruflich verwandeln würde, vollständig aus dem Gleichgewicht bringen. Er konnte die Magie jetzt ununterbrochen in sich arbeiten spüren, fühlte, wie sie seine Glieder hinablief, durch sein Blut brodelte, in seine Haut zwickte und an ihr kratzte wie ein Jucken, das niemals gestillt werden kann. Er haßte, was mit ihm geschah. Er haßte, wer er war. Er haßte Felsen-Dall und die Schattenwesen und die Südwache und die düstere Leere seines Lebens. Hoffnung hatte für ihn keine Bedeutung mehr. Er hatte seinen Glauben verloren, daß die Magie ein Geschenk sei, daß der Schatten Allanons ihn in die Welt hinausgesandt haben könnte, um einem wichtigen Zweck zu dienen, daß es Unterscheidungsgrenzen zwischen Gut und Böse gab und daß es ihm bestimmt war, alles zu überleben, was ihm widerfuhr.
Er zog seine Knie zur Brust hinauf und weinte. Sein Herz war schwer und von Verzweiflung erfüllt. Er würde niemals wieder aus diesem Gefängnis freikommen. Er würde Coll oder Damson oder einen der anderen niemals wiedersehen – wenn überhaupt noch einer von ihnen lebte. Er schaute durch die Gitter seines schmalen Fensters und dachte, daß die dahinterliegende Welt vielleicht bereits zu dem Alptraum geworden war, den Allanon ihm vor so langer Zeit gezeigt hatte. Er dachte, daß es vielleicht schon immer so gewesen war und nur seine falsche Wahrnehmung der Dinge ihn hatte glauben lassen, es sei anders.
Er achtete darauf, daß er nicht einschlief. Er wagte überhaupt nicht mehr zu schlafen, weil er die Träume nicht ertragen konnte, die der Schlaf ihm brachte. Er konnte spüren, daß er die Träume als Tatsachen zu akzeptieren begann und zu glauben anfing, daß es wahr sein mußte, daß er ein Schattenwesen war. Sein Gespür für die Dinge war aber auch zerstört, wenn er wach war, und er konnte dem Gefühl nicht entkommen, daß er nicht mehr er selbst war. Felsen-Dall war eine dunkle Gestalt, die Hilfe versprach und noch mehr anbot. Felsen-Dall war die Chance, die er nicht zu ergreifen wagte – und die Chance, die er schließlich doch ergreifen mußte.
Nein. Nein. Niemals.
An der Stelle seiner Zelle, wo sich die verschlossene und verriegelte Tür befand, bewegte sich die Luft. Er spürte es, bevor er es sah, und erhaschte dann einen Blick auf Schatten, die durch die Nacht zogen. Er blinzelte und dachte, es sei ein weiterer seiner Dämonen, um ihn heimzusuchen, ein weiteres Zeugnis des Wahnsinns, der ihn langsam überwältigte. Daher durchschnitt er mit der Hand die Luft vor seinen Augen, als könne das seine Sicht klären, obwohl er wußte, daß da nichts war. Er lachte fast, als er die Stimme hörte.
Par. Hör mir zu.
Er schüttelte den Kopf. Warum sollte er?
Par Ohmsford!
Die Stimme klang scharf und spröde vor Verärgerung. Pars Kopf schnellte sofort hoch.
Hör mir zu. Lausche auf meine Stimme. Wer bin ich? Sprich meinen Namen aus.