Daß Par und Coll Ohmsford lebten und das Schwert von Shannara in ihren Besitz gebracht hatten, sagte sie sich entschlossen. Daß Morgan Leah ihnen folgte. Daß Walker Boh Paranor und die Druiden zurückgebracht hatte. Daß Allanons Aufgaben erfüllt worden waren, daß das Geheimnis der Schattenwesen bekannt war und daß Hoffnung für sie bestand. Daran konnte sie glauben, und darin mußte sie ihre Kraft finden.
Sie fragte sich, ob ihr Onkel und ihre Cousins und Morgan Leah noch immer Kraft in ihrem Glauben fanden. Sie fragte sich, ob sie noch etwas übrigbehalten hatten, woran sie glauben konnten. Sie dachte an die Verluste, die sie erlitten hatte, und fragte sich, ob sie genauso viele erlitten hatten. Sie fragte sich schließlich auch noch, ob sie die Aufgaben Allanons auch dann wichtig genommen hätten, wenn sie von Anfang an den Preis gekannt hätten, den sie hatten entrichten müssen. Sicher hätten sie sich anders entschieden.
Helligkeit brach im Osten auf, wo die Sonne den Rand der Welt überschritt. Ein schwacher Silberschimmer erschien, der die Drachenzähne und das darunterliegende Waldgebiet sichtbar werden ließ. Das Licht sickerte ins Tal hinab und jagte die Schatten aus dem Nebel. Der Klang von Trommeln und Marschgeräusche wurden in der Ferne hörbar, schwach noch, aber zunehmend erkennbar. Padishar Creel diskutierte mit Barsimmon Oridio. Sie stimmten nicht darin überein, wie die Strategie der drei Armeen aussehen sollte, wenn der Angriff begänne. Sie waren beide Männer mit starkem Willen, und sie mißtrauten einander. Axhind hörte schweigend zu. Er blieb ruhig und ausdruckslos. Triss war fortgegangen. Es widerstrebte dem Anführer der Geächteten, daß Bar hartnäckig darauf bestand, die alleinige Befehlsgewalt zu bekommen. Sie hatte sie bereits einmal getrennt. Sie würde es vielleicht wieder tun müssen, und das gefiel ihr nicht. Sie wollte keinen Anteil an dem haben, was geschah. Nicht mehr. Sie stand da und beobachtete und rührte sich nicht, als die Diskussion hitziger wurde. Triss sah herüber und wartete darauf, daß sie eingriff. Im Süden wurden die Trommeln lauter.
Dann erschien plötzlich Stresa. Er brach unerwartet aus dem Gebüsch hervor, hob seine Stacheln an, um Staub und Blätter abzuschütteln, und eilte zu ihr. Wren wandte sich um und vergaß alles andere. Das Herannahen des Stachelkaters verriet unmißverständliche Dringlichkeit.
»Elfenkönigin«, zischte er mit abgehackter, rauher Stimme. »Sie haben Kriecher herangebracht!«
Sie spürte, wie ihr Herz aussetzte und ihre Kehle sich zusammenzog. »Wir haben sie doch alle im Sumpf zurückgelassen«, wandte sie zögernd ein.
»Sie haben noch weitere bekommen! Sssttt!« Die nasse Schnauze hob sich, und seine dunklen Augen sahen sie hart an. »Von Tyrsis anscheinend. Phhffttt! Auch Soldaten, aber die Kriecher sind das Problem. Fünf mindestens. Ich bin hergekommen, sobald ich sie gesehen hatte.«
Sie wirbelte zu den anderen herum. Padishar Creel und Bar hatten ihren Streit beendet. Axhind und Chandos standen wie Steinfiguren Schulter an Schulter da. Triss war bereits neben ihr.
Kriecher.
Es wurde heller, und der Nebel verzog sich, während die Föderationsarmee aus der Dämmerung auf das Tal von Rhenn zumarschierte. Sie kam mit ihren schwarzen und scharlachroten Divisionen und schwärmte weit über den Eingang des Tales und über seine Hänge hinweg aus. Die Reihen von Männern schienen endlos lang. Kavallerie ritt an den Flanken, und es kamen rollende gezimmerte Verschanzungen mit Schießscharten heran, hinter denen sich Bogenschützen verbergen konnten. Mauern aus Schilden und Katapulte waren zu sehen sowie bei jedem Kommando schwarzgewandete Sucher.
Aber aller Augen wandten sich dem Mittelpunkt der Armee zu. Dort bewegten sich die Kriecher in ihrem glänzenden schwarzen Metall, mit gezackten, haarigen Gliedern, Wesen zwischen Maschine und Tier. Sie kamen auf die Elfen und ihre Verbündeten zu, auf die Männer, die sie vernichten sollten.
Wren Elessedil betrachtete sie und empfand nichts. Ihr Kommen bedeutete das Ende der Elfen, und das wußte sie. Ihr Kommen bedeutete das Ende von allem.
Sie griff in ihrer Tunika nach den Elfensteinen und trat vor, um sich dem Feind ein letztes Mal entgegenzustellen. »Steh auf, Par!«
Coll schrie ihn an, zog ihn am Arm hoch und auf die Füße. Er rappelte sich gehorsam auf, obwohl er noch immer unter Schock stand durch das, was ihm widerfahren war, obwohl er noch immer betäubt war von den Enthüllungen des Schwertes. Ein Wirbeln von Bewegung entstand auf der Treppe, als jene, die zu ihm gekommen waren – Walker, Damson, Coll, Morgan und die große, schlanke, schwarzhaarige Frau, deren Gesicht er nicht kannte –, heraneilten und ihn umringten. Ondit durchstöberte eifrig den Raum. Das Flüstern von etwas war zu hören, das die Treppe herunterkam, aber die Dunkelheit verbarg, was dort herumkroch. Die Türen, die aus dem Turmraum herausführten, waren geschlossen bis auf eine, die über einen Hof zu Mauern und einem Durchgang zu dem dahinterliegenden Land zurückführte. Zumindest diese Richtung war frei, und in der Ferne konnte er das Morgenlicht über den Horizont des Runne heraufziehen sehen.
Walker schaute auch dorthin, wie er sah. Walker, der jetzt ganz in Schwarz, bärtig und bleich war, aber irgendwie stärker wirkte als je zuvor und erfüllt war von einem Feuer, das unmittelbar unter der Oberfläche brannte. Wie Allanon, dachte Par. Wie Allanon einst gewesen war. Walker sah kurzzeitig zu dem Durchgang hinüber. Er war unentschlossen wie die anderen, die dicht um Par versammelt, aber den geschlossenen Türen und der offenen Treppe zugewandt waren und die Waffen bereithielten.
»Welche Richtung!« zischte das dunkelhaarige Mädchen.
Walker wandte sich schnell um und ging entschlossen zu den anderen. »Wir sind gekommen, um Par zu retten und freizulassen, was die Schattenwesen in den Tiefen des Keep gefangenhalten. Wir haben diese Aufgabe noch nicht beendet.«
Damson legte den Arm um Par und hielt ihn, als wolle sie ihn niemals wieder loslassen. Par umarmte sie ebenfalls und sagte ihr, daß es in Ordnung sei, daß er jetzt sicher sei. Er fragte sich, ob er das wirklich war, fragte sich noch immer, was geschehen war. Die Magie des Wunschgesangs war wieder die seine, aber er war sich dennoch immer noch nicht sicher, was sie tun würde.
Aber zumindest bin ich kein Schattenwesen! Zumindest weiß ich das!
Coll stand dicht bei Walker. »Die Tür mit den Querriegeln dort drüben führt einen Gang zur Kellertreppe hinab. Gehen wir?«
Walker nickte. »Schnell. Bleibt zusammen!«
Sie durchquerten eilig den Raum, und während sie dies taten, warf sich ein dunkler Schatten die Treppe hinab und stürzte sich auf das schwarzhaarige Mädchen. Sie wich dem Angriff aus, und das Wesen wandte sich ihr sofort zischend und rotäugig wieder zu, streckte Hände mit Klauen aus Feuer aus. Aber Ondit erwischte es, bevor es zustoßen konnte, riß es in der Mitte entzwei und warf es beiseite.
Walker stieß die Tür mit den Querriegeln auf, und sie eilten hindurch und verließen die Treppe und ihre Verfolger. Der Gang war hoch und dunkel, und sie glitten ihn vorsichtig hinab, während ihre Augen die Schatten durchforschten. Ondit war wieder vor ihnen. Seine Katzenaugen waren schärfer als ihre eigenen und führten sie voran. Von irgendwo unter ihnen erklang ein mahlendes Geräusch herauf, dann ein langes Seufzen und ein Ausatmen. Der Turm der Schattenwesen erschauerte als Antwort wie die Haut von etwas Lebendem. Es war, als ob er im Rhythmus eines Herzschlags ruckartig zuckte. Was war dort unten? Par fragte sich, was dort unten war. Das war nicht das Geräusch von Wellen, die gegen die Mauern schlugen, wie Felsen-Dall ihm gesagt hatte – das war eine weitere Lüge gewesen. Etwas anderes. Etwas so Wichtiges, daß Walker eher alles riskieren würde, als es dort zu lassen. Wußte er, was es war? Hatte Allanon ihm die Antworten gegeben, nach denen sie alle gesucht hatten?
Es war keine Zeit, das jetzt herauszufinden. Schatten erfüllten den Durchgang hinter ihnen, und Morgan wirbelte wieder herum und führte das Feuer des Schwertes von Shannara gegen sie. Sie zerstreuten sich und verschwanden, waren aber im Handumdrehen wieder da. Coll flüsterte Walker drängend etwas zu, aber Walker schien zu wissen, wohin er ging, und zog Coll hinter sich her. Er hielt ihn dicht bei sich, und die anderen folgten hinter ihnen und hielten sich nah an den Mauern. Schatten wirbelten aus der Dunkelheit vor ihnen heran, aber sie waren nur Spiegelungen dessen, was folgte. Par drückte Damson an sich und lief weiter.