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»Aber hast du mir nicht selbst gesagt, daß man immer die Wahrheit sagen muß?«

»Ja. Aber in diesem Fall könnte die Wahrheit großen Schaden anrichten. Ein Mordanschlag auf einen Tempelritter ist ein schweres Verbrechen, das auf uns alle zurückfallen würde.« Sie fuhr Robin sacht mit dem Handrücken über die Wange. »Und nun schlaf. Wenn du morgen früh aufwachst, dann wird dir alles nur noch wie ein böser Traum erscheinen.«

Robin war mittlerweile viel zu müde, um noch zu antworten - und außerdem klangen die Worte ihrer Mutter einfach zu verlockend, als daß sie sie nicht glauben wollte.

Sie schlief ein.

KAPITEL 5

In den darauffolgenden Tagen begann sich Robins Leben allmählich wieder zu normalisieren, und das gleiche galt auch für alle anderen im Dorf. Ihre Mutter hatte sie am nächsten Morgen nicht geweckt, und der betäubende Trank hatte wohl noch ein übriges getan, so daß sie erst spät am Vormittag von selbst erwachte. Sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund und leichte Kopfschmerzen, und als sie sich aufsetzte, wurde ihr im ersten Moment schwindelig; vermutlich ebenfalls eine Nachwirkung des Kräutertees. Aber sie erinnerte sich auch nicht an weitere, böse Träume.

Sie war allein. Ihre Mutter war sicherlich schon auf dem schmalen, abgesteckten Rechteck, das sie im Laufe der letzten zehn Jahre Stück für Stück dem steinigen Boden abgerungen hatte, und sie mußte sich sofort auf den Weg machen, um ihr bei der schweren Feldarbeit zur Hand zu gehen. So dankbar sie ihrer Mutter auch war, daß sie sie hatte ausschlafen lassen, so sehr plagte sie auch ihr schlechtes Gewissen, sie mit der Arbeit allein gelassen zu haben.

In aller Eile verließ sie das Haus und hatte schon kurz darauf den Acker erreicht. Aber ihre Mutter war nicht da. Überhaupt fiel ihr erst jetzt auf, wie sonderbar ruhig der ganze Ort war. Normalerweise wäre es gar nicht möglich gewesen, zu dieser Zeit des Tages aus dem Haus zu gehen, ohne auf irgendeinen Nachbarn zu treffen. Jetzt lag der Ort wie ausgestorben da. Nicht einmal die Kinder waren zu sehen. Wahrscheinlich gab es ein Dutzend harmloser Erklärungen dafür - aber mindestens auch ebenso viele, die ganz und gar nicht harmlos waren. Robin wollte sich gerade wieder umwenden, um ins Dorf zurückzugehen und nach den anderen zu suchen, als sie eine Bewegung in der Ferne wahrnahm.

Ungefähr auf halbem Wege zur Kapelle.

Die Erinnerungen waren wieder da. Bisher war es ihr irgendwie gelungen, den Gedanken an den gestrigen Abend und alles, was geschehen war, zu verdrängen, aber nun waren sie wieder da und mit ihnen die Furcht, die sich in ihr Herz krallte. Sie hatte gehofft, daß es vorbei war. Ihre Mutter hatte es ihr versprochen. Aber wenn sich nun schon wieder etwas bei dieser verfluchten Kapelle rührte, dann konnte das nichts Gutes bedeuten. Ohne auch nur darüber nachzudenken, was sie tat, rannte sie los.

Natürlich ging ihr der Atem aus, noch bevor sie auch nur die halbe Strecke zurückgelegt hatte. Trotzdem erreichte sie die Kapelle in einem Bruchteil der Zeit, die sie normalerweise gebraucht hätte - und erlebte eine Überraschung.

Als sie sich der Kapelle näherte, begriff sie, warum der Ort an diesem Morgen wie ausgestorben dagelegen hatte: Alle Einwohner waren hier; ihre Mutter, Gero, Janna und Hark, Gese und alle anderen, selbst die Kinder. Die Einzige, die bislang fehlte, war sie selbst.

Robin schlug einen weiten Bogen, um die große Buche zu umgehen, unter der Jan gestern abend zu Tode gekommen war, und als sie noch näher kam, erlebte sie eine zweite, diesmal aber eindeutig unangenehme Überraschung: Zwischen all ihren Nachbarn und Freunden erhob sich eine untersetzte, sehr breitschultrige Gestalt, die einen weißen Mantel mit einem blutroten Kreuz trug. Sie hatte bisher ganz automatisch angenommen, daß Bruder Abbé das Dorf schon lange verlassen hätte, um sich auf den Rückweg zur Komturei zu machen. Selbst gestern abend hatte er ja eigentlich nicht bleiben wollen, sondern war nur durch den großen Blutverlust und die dadurch hervorgerufene Schwäche dazu gezwungen worden. Nun mußte es fast Mittag sein, und er war immer noch hier.

In diesem Moment begriff sie, warum.

Hark und einige andere Männer hatten unweit der Kapelle drei rechteckige, tiefe Gruben ausgehoben, und daneben lagen drei in weiße Tücher eingeschlagene Körper. Gräber. Sie hatten Gräber ausgehoben. Und Bruder Abbé war hiergeblieben, um Helle, Olof und ganz offensichtlich auch Jan hier zu beerdigen. Aber warum hier? Sie hatten einen Friedhof, aber der lag auf der anderen Seite des Dorfes.

Ihre Mutter kam ihr entgegen. Sie lächelte und schien wirklich guter Dinge, was Robin angesichts der Situation wenig angemessen erschien, aber Robin ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen, sondern fragte: »Was geht hier vor?«

Ihre Mutter blinzelte. Robin hatte niemals zuvor in einem solchen Ton mit ihr gesprochen, und sie erschrak auch fast selbst, als sie ihre eigene Stimme hörte. Seltsamerweise wurde sie jedoch nicht zornig, sondern lächelte im Gegenteil erneut und beantwortete dann Robins Frage. »Wir beerdigen sie, Kind.«

»Hier? Wieso hier? Wir haben doch einen Friedhof.«

»Der Tempelritter wollte es so«, antwortete ihre Mutter. »Und es ist besser, wenn wir ihm nicht widersprechen.«

»Wollte er auch, daß ich nicht dabei bin?« fragte Robin.

Allmählich zeigte sich doch eine Spur von Unmut auf den Zügen ihrer Mutter. »Nimm dich nicht zu wichtig, kleines Mädchen«, sagte sie. »Von dir war überhaupt nicht die Rede. Du hast geschlafen, und nach allem, was du gestern abend durchgemacht hast, hielt ich es einfach für das beste, dich weiterschlafen zu lassen. Und nun beherrsche dich bitte - oder geh zurück ins Haus, und warte dort auf mich.«

»Aber gestern nacht...«

»Gestern nacht war gestern nacht, und heute ist heute«, schnitt ihr die Mutter das Wort ab. Robin war jetzt nicht mehr sicher, ob sie nun wütend oder vielleicht vielmehr besorgt klang. »Willst du mitkommen und Helle und deinem Freund die letzte Ehre erweisen oder zurück ins Dorf gehen?«

»Ich komme mit«, antwortete Robin.

»Gut«, sagte ihre Mutter. »Ich wußte, daß du vernünftig bist. Aber bleib es auch. Und vergiß eins nicht, bei allem, was du tust oder sagst: Unser aller Leben liegt allein in der Hand des Tempelritters. Und nun komm.«

Diesmal widersprach Robin nicht mehr, sondern folgte ihrer Mutter wortlos. Als sie die anderen erreichten, hatten die Männer zwei der drei Toten bereits in ihre Gräber gelegt, und Bruder Abbé wachte höchstpersönlich darüber, daß auch der dritte verhüllte Körper mit dem gebührenden Respekt in seine Grube hinabgelassen wurde. Nachdem die Männer wieder herausgeklettert waren, sorgte der Tempelritter mit einer knappen Geste für Ruhe, und Robin erlebte eine weitere Überraschung - vielleicht die größte überhaupt, denn der Tempelritter begann eine Predigt zu halten; am Anfang in einer Sprache, die Robin noch nie gehört hatte und die sie für Latein hielt, später aber auf deutsch, so daß sie jedes Wort verstand.

Die Predigt war nicht lang, aber vollkommen anders, als Robin - und der allgemeinen Reaktion nach auch alle anderen - erwartet hatten. Bruder Abbé hatte sich offensichtlich über Helle und Olof informiert, denn seine kurze Ansprache bezog sich auch auf Dinge, die er als Fremder im Grunde gar nicht wissen konnte, und er verlor kein einziges schlechtes Wort über Olof. Nichts darüber, daß er Helle ermordet und seinen Knappen erschlagen hatte, nicht einmal ein Wort davon, daß er auch versucht hatte, ihn selbst umzubringen. Er machte keinen Hehl daraus, daß Olof kein guter Mensch gewesen war, aber wenn man ihm nur lange genug zuhörte, kam man ohnehin zu dem Schluß, daß es keine guten Menschen gab, sondern nur Sünder verschiedener Abstufungen.