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Als er über Jan sprach, begann Robin lautlos zu weinen. Anfangs verstand sie selbst nicht einmal wirklich, warum. Sie hatte Jan nur ein paarmal gesehen, und wenn der junge Tempelritter einen Eindruck bei ihr hinterlassen hatte, dann vor allem den, ein fürchterlicher Aufschneider zu sein. Vergangene Nacht, als sie ihrer Mutter gegenüber behauptet hatte, Jan hätte ihr nichts bedeutet, da war sie selbst der festen Überzeugung gewesen, daß das die Wahrheit war. Aber jetzt spürte sie, daß tief in ihr doch irgend etwas sein mußte, denn sie empfand eine große, ehrlich empfundene Trauer um Jan. Es war so, wie Abbé gestern abend gesagt hatte: Sein Tod war eine furchtbare Verschwendung. Der Tempelritter mochte die Jahre der Ausbildung gemeint haben, für die er keine Gegenleistung mehr bekommen würde, aber Robin benutzte das Wort in einem gänzlich anderen Zusammenhang. Jans Leben war gewaltsam beendet worden, bevor es noch richtig begonnen hatte. Er hatte einen Vater gehabt, eine Mutter und vielleicht Freunde, die nun um ihn trauern würden, und sein Tod war so vollkommen sinnlos gewesen. Er nutzte niemandem, und er war die Strafe für etwas, was er selbst gar nicht getan hatte.

Abbé beendete seine Predigt, indem er die drei offenen Gräber und auch den umliegenden Boden segnete, dann trat er zwei Schritte zurück und wandte sich wieder zu ihnen um. »Ihr könnt die Gräber nun schließen«, sagte er.

»Meine Aufgabe hier ist beendet, und ich muß nun weiter. Ich danke euch für eure Gastfreundschaft.«

Er trat zwei weitere Schritte zurück, straffte seine Gestalt und wollte sich umwenden, blieb dann aber mitten in der Bewegung noch einmal stehen und sah zu Robin hin. Für alle anderen mochte es den Anschein haben, daß sein Blick noch einmal prüfend über die Gesichter der versammelten Menge glitt, aber Robin spürte genau, daß er nur ihr galt, und sie verstand auch die Drohung, die darin geschrieben stand, so deutlich, als stünde Bruder Abbé neben ihr und flüstere ihr die Worte ins Ohr. Sie antwortete mit einem fast unmerklichen Nicken darauf, und so sacht die Bewegung auch gewesen war, der Tempelritter hatte sie gesehen, denn etwas in seinen Augen änderte sich, und er führte die begonnene Drehung zu Ende und ging dann langsam und ohne Hast auf die beiden Pferde zu, die er ein Stück abseits angebunden hatte. Beide waren bereits gesattelt und aufgezäumt.

Anders als gestern abend trug das Pferd des Tempelritters nun eine prachtvolle weiße Schabracke, auf der das rote Kreuzsymbol prangte. Sie sah nun, daß Abbés Tier tatsächlich viel größer und kräftiger als das seines Knappen war; ein muskulöses, breitbrüstiges Schlachtroß, dessen Bewegungen pure Kraft, aber auch damit gepaartes großes Geschick ausdrückten, während das Pferd, das Jan geritten hatte, fast noch ein Pony zu sein schien: Es hatte ein schwarzweiß und ein wenig braun geschecktes Fell, eine weiße Mähne und schlanke, ebenfalls weiße Fesseln, und es tänzelte nervös auf der Stelle, als Abbé sich in den Sattel seines eigenen Tieres schwang und nach seinen Zügeln griff.

Der Anblick des Tieres ließ sie wieder an Jan denken, und sie spürte, wie sich ihre Augen schon wieder mit heißen Tränen füllten. Diesmal kämpfte sie sie nieder, wenn auch nicht mit so großem Erfolg, wie sie es sich gewünscht hätte. Aber immerhin brach sie nicht mehr in lautes Schluchzen aus, und nachdem er sein Pferd gewendet hatte und endgültig losgeritten war, hob sie unauffällig den Arm und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Niemand sprach. Eine sonderbare Art von Beklemmung hatte von den Menschen Besitz ergriffen, eine Mischung aus Trauer, Furcht und einer vagen Hoffnung, die so empfindlich schien, daß sie sie sich vielleicht nicht einmal selbst einzugestehen wagten, aus Angst, sie allein dadurch zunichte zu machen.

Robin erwartete, daß ihre Mutter jetzt wieder etwas zu ihr sagte, vielleicht ihre Warnung wiederholen oder das, was sie über Bruder Abbé gesagt hatte, bekräftigen würde, aber das geschah nicht. Als sie aufsah und ins Gesicht ihrer Mutter blickte, stellte sie fest, daß auch diese mit den Tränen kämpfte, und erst jetzt, zum ersten Mal seit Beginn dieser schrecklichen Ereignisse, wurde ihr klar, daß sie nicht die einzige hier war, die einen Verlust erlitten hatte. Es war schon so, wie Gero gestern abend gesagt hatte: Niemand trauerte wirklich um Olof. Er war ein gewalttätiger, brutaler Mann gewesen, mit dem fast jeder im Dorf schon einmal in Streit geraten war, vor dem viele Angst gehabt hatten und den niemand wirklich vermissen würde. Doch dafür hatte sich seine Frau um so größerer Beliebtheit erfreut; am Anfang aus Mitleid, weil natürlich jeder wußte, wie Olof sie behandelte, später aber, weil die Menschen im Dorf ihr fröhliches Wesen und ihr ansteckendes Lachen mochten. Ein Lachen, das nicht einmal die jahrelangen Demütigungen und Schläge Olofs ganz zum Verstummen hatte bringen können. Ihre Mutter und Helle waren gute Freundinnen gewesen, bessere vielleicht, als Robin bis zu diesem Moment überhaupt bewußt gewesen war.

Alle blieben schweigend stehen, während die Männer drei schlichte Holzkreuze aufstellten, die sie wohl während der Nacht angefertigt hatten. Es standen keinen Namen darauf. Sie unterschieden sich weder in Größe noch Form voneinander, aber Robin war auch fast sofort klar, daß das Absicht war - ebenso, wie sie mit einem Male begriff, warum Bruder Abbé darauf bestanden hatte, diese drei hier und nebeneinander zu beerdigen, statt auf dem kleinen Friedhof des Dorfes. Bei aller Grausamkeit, die das Schicksal ihnen zugefugt hatte, waren sie nun doch im Tode vereint worden. Sie würden nun für die Ewigkeit nebeneinander ruhen, und vielleicht fanden ihre Seelen auf diese Weise Zeit, einander zu vergeben.

Und sie selbst? Würde sie sich jemals selbst vergeben? Ganz egal, was ihre Mutter - oder irgendein anderer aus dem Dorf - auch sagte, sie fühlte sich schuldig, und sei es nur, weil sie irgendwie an dieser furchtbaren Geschichte beteiligt gewesen war.

Sie standen noch eine Weile schweigend an den frischen Gräbern, dann wandte sich einer nach dem anderen um und ging zurück in Richtung Dorf. Auch ihre Mutter drehte sich wortlos um und machte eine auffordernde Geste.

»Ich möchte noch... ein paar Blumen auf das Grab legen«, murmelte Robin. »Wenn ich darf.«

»Natürlich«, antwortete ihre Mutter.

Robin entfernte sich ein Dutzend Schritte von der Kapelle und kam nach wenigen Minuten mit einem Armvoll frischer Wildblumen zurück, die in großer Anzahl hier wuchsen. Die fröhlichen Farben erschienen ihr dem Anlaß nicht angemessen, aber es gab hier nur diese Blumen. Außerdem hatte sie wenig Erfahrung in solcherlei Dingen. Es war nicht das erste Mal, daß sie bei einer Beerdigung dabei war, aber sie hatte noch nie jemanden zu Grabe getragen, der ihr wirklich etwas bedeutet hatte.

Ihre Mutter hatte sich einige Schritte entfernt und sah ganz bewußt nicht in ihre Richtung, aber als sie den Blumenstrauß auf das mittlere der drei Gräber legte, fragte eine Stimme hinter ihr: »Warum ausgerechnet auf dieses Grab?«

Robin mußte sich nicht herumdrehen, um zu wissen, daß ihre Freundin Carla hinter ihr stand; das Nachbarmädchen, dessen Erwähnung Bruder Abbé zu einer anzüglichen Bemerkung provoziert hatte.

»Weil es Helles Grab ist«, sagte sie, ohne den Blick zu heben.

»Woher willst du das wissen?« fragte Carla. »Sie sehen doch alle gleich aus. Und die Toten hatten sie in Tücher eingewickelt.«

Robin sah nun doch hoch. Carla stand so hinter ihr, daß sie genau in die Sonne blinzeln mußte und ihr Gesicht fast nur als Umriß sah. Aber sie konnte sich den leicht abfälligen, zweifelnden Ausdruck auf Carlas sommersprossigem Gesicht ebensogut vorstellen wie ihr Naserümpfen. Carla war ein Jahr älter als sie und hielt sich für furchtbar erwachsen, und sie war nicht unbedingt für ihre Einfühlsamkeit bekannt.