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»Ich weiß es eben«, sagte sie kurz angebunden. Sie wußte es wirklich. Sie hatte die Blutflecken auf den Leinentüchern gesehen, in die man die Toten eingeschlagen hatte, und anders als Bruder Abbé gestern Abend behauptet hatte, hatte sie genau gesehen, auf welche Weise Helle, Jan und Olof gestorben waren.

Carla zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst... bist du denn jetzt fertig? Ich meine: Können wir gehen?«

»Wieso? Hast du noch eine Verabredung mit einem Prinzen auf einem weißen Pferd?« fragte Robin spitz. Sie hätte gerne noch andere Dinge gesagt, aber sie schluckte alles, was ihr auf der Zunge lag, herunter. Carla hätte es sowieso nicht verstanden, und sie wollte sich nicht hier an Helles Grab mit ihr streiten. So stand sie mit einem Ruck auf und drehte sich herum, um zu ihrer Mutter zurückzugehen. Diese hatte sich jedoch bereits auf den Rückweg zum Dorf gemacht und war schon ein gutes Stück entfernt, so daß sie hätte rennen müssen, um sie einzuholen. Vielleicht war sie der Annahme, daß Robin jetzt mit ihrer Freundin allein sein wollte.

Robin wollte in diesem Moment nichts weniger als das, aber sie fühlte sich viel zu erschöpft, um sich jetzt auch noch mit Carla herumzuzanken. Und wenn sie einfach losrannte und sie stehen ließ, dann verschob sie den Streit nur auf später. Carla war nicht nur altklug und vorlaut, sie war auch ziemlich nachtragend. So ging sie zwar schnell, aber doch so, daß ihre Freundin sie nach ein paar Schritten problemlos einholen konnte.

»Was ist eigentlich los mit dir?« fragte Carla, nachdem sie neben ihr angelangt war.

»Los? Was soll los sein? Nichts.«

»Das ist nicht wahr«, beharrte Carla. »Ich dachte immer, wir wären Freundinnen.«

»Das sind wir doch auch.« Robin warf einen fast sehnsüchtigen Blick zu ihrer Mutter hin. Sie holten allmählich auf, aber nicht annähernd so schnell, wie sie es sich gewünscht hätte. Schneller gehen konnte sie jedoch nicht. Carla schnaufte jetzt schon vor Anstrengung, mit ihr Schritt zu halten.

»Gute Freundinnen haben keine Geheimnisse voreinander«, sagte Carla schmollend.

Gute Freundinnen, dachte Robin ärgerlich, respektieren auch die Trauer der anderen. Aber auch das sprach sie nicht laut aus, denn Carla hätte es ebensowenig verstanden. Sie ging nun doch ein wenig schneller - nicht viel, aber doch gerade genug, daß Carla ab und zu einen hastigen zusätzlichen Schritt einlegen mußte, um nicht zurückzufallen.

»Warum hast du mir nichts von diesem jungen Ritter erzählt?« fragte Carla, nachdem sie eine Weile vergeblich darauf gewartet zu haben schien, daß Robin von sich aus weitersprach.

»Da gibt es nichts zu erzählen«, antwortete Robin. »Ich habe ihn ja kaum gekannt.«

»Lüg mich nicht an«, sagte Carla. »Ihr habt euch vier Wochen lang getroffen. Jeder im Dorf hat das gewußt. Und ich habe ein paarmal gesehen, wie du dich nach Sonnenuntergang ins Dorf zurückgeschlichen hast.«

»Und warum hast du nichts davon gesagt - wenn wir doch so gute Freundinnen sind und Freundinnen doch angeblich keine Geheimnisse voreinander haben?« wollte Robin wissen.

Carlas Augen wurden schmal. »Ich fange an zu überlegen, ob wir wirklich so gute Freundinnen sind, wie ich immer dachte«, sagte sie. Aber dann siegte natürlich die Neugier, und ein verschmitztes Lächeln drängte den ärgerlichen Ausdruck aus ihrem Gesicht.

»Nun erzähl schon«, drängelte sie. »Wie war es? Ich meine: Habt ihr euch geküßt, oder sogar...?«

»Nein«, unterbrach sie Robin. »Wir haben uns nicht geküßt. Und sogar schon gar nicht.« Was immer Carla damit meinen mochte.

»Du lügst«, behauptete Carla. »Oder du bist dumm. Aber ich glaube, daß du lügst. Man sieht dir doch an, wie nahe dir sein Tod geht. Und jetzt erzähl mir nicht, daß du um Helle trauerst. Das glauben dir vielleicht alle anderen, aber ich nicht. Hast du ihn geliebt?«

Robin hatte endgültig genug. Sie griff so schnell aus, daß sie ihre Mutter nun doch nach wenigen Schritten eingeholt hatte, und es war ihr jetzt auch egal, was Carla von ihr dachte.

Immerhin ließ sie sie für den Rest des Rückwegs in Ruhe.

KAPITEL 6

Schon am nächsten Tag kehrte sie zu der alten Kapelle zurück. Niemand im Dorf hatte auch nur ein einziges Wort über den Zwischenfall verloren, und das Leben war scheinbar wieder zu seinem gewohnten Ablauf zurückgekehrt.

Für alle - außer für Robin.

Sie hatte noch zweimal versucht, mit ihrer Mutter zu reden, sich aber jedes Mal eine Abfuhr eingehandelt - das zweite Mal in so scharfem Ton, daß sie keine Lust mehr auf einen dritten Versuch verspürte.

Immerhin hatte sie eines begriffen: Niemand im Dorf war an der Wahrheit interessiert. Möglicherweise war sie die einzige hier, die wußte, was in jener Nacht wirklich passiert war. Aber keiner wollte es wissen. Die durchsichtige Lüge, die Bruder Abbé ihnen aufgetischt hatte, war alles, was sie interessierte. Robin glaubte sogar zu verstehen, warum - aber was war mit dem, was ihre Mutter ihr immer und immer wieder über die Wahrheit erzählt hatte? War sie plötzlich nicht mehr das höchste Gut - das einzige, was selbst die Reichen und Mächtigen armen Leuten wie ihnen nicht nehmen konnten?

Vielleicht war sie auch nur deshalb hierher gekommen. Diesmal hatte sie ihre Mutter um Erlaubnis gefragt - und sie zu ihrer Überraschung auch bekommen. Sie hatte gesagt, daß sie frische Blumen auf Helles Grab legen wollte, und ihre Mutter hatte so getan, als ob sie ihr diese Version glaubte, aber sie wußten beide, daß es nicht die Wahrheit war.

Dabei wußte sie nicht einmal selbst genau, warum sie hierhergekommen war. Vielleicht einfach, um allein zu sein.

Carlas Worte - so lächerlich sie ihr im ersten Augenblick vorgekommen waren, gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn.

Hast du ihn geliebt?

Noch vor zwei Tagen hätte sie diese Frage empört zurückgewiesen, aber nun hätte die ehrliche Antwort gelautet: Ich weiß es nicht. War dieser dumpfe Schmerz, der sie jedes Mal überkam, wenn sie an Jan dachte, wirklich nur Trauer oder vielleicht doch mehr? Sie versuchte, sich zu erinnern, was sie in Jans Gegenwart empfunden hatte, mußte sich aber zu ihrem Erschrecken eingestehen, daß sie es nicht konnte.

Liebe...

Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, dann mußte sie gestehen, daß sie gar nicht genau wußte, was dieses Wort bedeutete. Natürlich liebte sie ihre Mutter - aber das war nicht dasselbe. Konnte es denn sein, daß es... verschiedene Arten der Liebe gab? Und wenn es so war - was war dann an dieser anderen Art der Liebe so erstrebenswert, wenn es sich doch um ein Gefühl handelte, dessen man sich erst dann bewußt wurde, wenn man es im Grunde bereits verloren hatte?

Fragen über Fragen, und so wenige Antworten. Sie wußte eigentlich nur eines mit absoluter Sicherheit: daß ihr Leben nicht wieder dasselbe sein würde wie vor dem Tag, an dem sie Jan kennengelernt hatte.

Sie tauschte die Blumen, die sie auf Helles Grab gelegt hatte, gegen frische aus und machte sich auf den Rückweg ins Dorf, um noch vor dem Sonnenuntergang wieder zu Hause zu sein, wie sie es ihrer Mutter versprochen hatte.

Aber schon am Abend danach kehrte sie zur Kapelle zurück und ebenfalls am folgenden und auch am darauffolgenden. Sie blieb nie lange, einige Minuten nur, gerade lange genug, um einen frischen Blumenstrauß auf das Grab zu legen und einige Augenblicke lang in sich hineinzulauschen. Aber der Schmerz war immer noch da; und ein Sehnen nach etwas, von dem sie nicht einmal wußte, was es war.

Als sie sich von Helles Grab abwandte, sah sie sich ihrer Mutter gegenüber. Sie erschrak. Sie hatte nicht einmal gemerkt, daß ihre Mutter ihr gefolgt war, und sie fragte sich, warum.

»Du solltest damit aufhören, Kind«, sagte ihre Mutter.

Robin wußte sehr genau, was sie meinte. Trotzdem legte sie den Kopf auf die Seite und fragte: »Womit?«