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»Dich zu quälen.«

»Ich quäle mich nicht«, behauptete Robin. »Ich bin nur hier, um Helles Grab zu pflegen. Ich habe frische Blumen gebracht.«

Ihre Mutter bedachte das Grab mit einem langen, nachdenklichen Blick. Robin hatte im Laufe der vergangenen vier Tage genug Blumen darauf gehäuft, daß die nähere Umgebung der Kapelle leergepflückt sein mußte.

»Du lügst«, sagte sie ruhig. Sie klang nicht zornig, aber sehr traurig.

»Aber ich...«

»Und das Schlimme ist, du weißt es nicht einmal«, fuhr ihre Mutter leise fort. Sie schüttelte den Kopf, sah sich anscheinend nach einem Platz um, an den sie sich setzen konnte, und beließ es dann bei einem Achselzucken. »Wir müssen miteinander reden, Robin.«

»Warum?«

Ihre Mutter lächelte traurig. Sie antwortete jedoch nicht gleich, sondern drehte sich halb herum und sah erst auf das linke, dann auf das rechte der beiden Gräber hinab, die das Helles flankierten.

»Welches der beiden ist das von Jan?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Robin wahrheitsgemäß. Bei diesen Worten fühlte sie einen dünnen, aber tiefgehenden Stich.

»Das ist schlimm«, sagte ihre Mutter leise. »Arn Grab eines geliebten Menschen zu stehen und nicht zu wissen, ob vielleicht er darin liegt oder der, der für seinen Tod verantwortlich ist...«

»Geliebt? Ich habe ihn ...«

»Natürlich warst du in ihn verliebt«, unterbrach sie ihre Mutter. »Du hast es vielleicht selbst nicht gemerkt, aber du warst es. Und wie könntest du auch nicht? Du bist ein einfaches Mädchen, das noch nie aus seinem Dorf herausgekommen ist, und er war ein Ritter. Ein Mann, der die Welt gesehen hat und der spannende und aufregende Geschichten zu erzählen wußte. Natürlich bist du ihm erlegen.«

»Das bin ich nicht«, antwortete Robin scharf - schärfer, als sie selbst beabsichtigt hatte. Sie dämpfte ihren Ton, fuhr aber trotzdem fort: »Er hat mich nicht angerührt!«

»Das habe ich auch nicht gemeint«, sagte ihre Mutter. »Es wäre schlimm genug, hätte er es getan - aber er hat etwas viel Schlimmeres getan.«

Robin war kurz davor, sich einfach herumzudrehen und ihre Mutter stehenzulassen - ein Gedanke, der so ungeheuerlich war, daß ihr bei der bloßen Vorstellung der Atem stockte.

Und als hätte ihre Mutter ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Ich sehe, du weißt, was ich meine.«

»Nein«, antwortete Robin feindselig. »Ich weiß nur, daß wir dieses Gespräch schon einmal geführt haben.«

»Und daß du da offenbar genausowenig verstanden hast wie jetzt, was ich meine.« Ihre Mutter seufzte. Sie zwang sich zu einem Lächeln und streckte die Hand aus, aber Robin rührte sich nicht von der Stelle. Nach einem Moment ließ sie den Arm enttäuscht wieder sinken.

»Oh, Robin«, seufzte sie. »Glaubst du denn wirklich, daß ich nicht genau wüßte, was du fühlst? Ich weiß es.« Sie zögerte einen winzigen Moment. »Ich weiß es, weil ich dasselbe durchgemacht habe.«

»Du?« fragte Robin erstaunt.

»Ich hatte gehofft, dir dies niemals erzählen zu müssen«, sagte ihre Mutter leise. »Manchmal ist es leichter, Dinge nicht zu wissen, glaube mir. Aber vielleicht stimmt das auch nicht. Vielleicht habe ich nur dasselbe getan wie du und mich selbst belogen.«

»Was ist passiert?« fragte Robin.

»Dasselbe, was dir passiert ist«, antwortete ihre Mutter. »Ich habe einen Mann kennengelernt. Deinen Vater.«

»Den Soldaten?«

»Ja.«

»Aber du hast doch erzählt, daß ihr glücklich miteinander wart!«

»Das waren wir auch«, antwortete ihre Mutter. »Oh ja, ich war glücklich. Es waren die glücklichsten sechs Monate in meinem Leben, glaub mir. Ich möchte sie um nichts auf der Welt missen. Aber ich habe einen sehr hohen Preis dafür bezahlt... vielleicht einen zu hohen. Ich möchte nicht, daß es dir eines Tages genauso ergeht wie mir. Alles, was ich will, ist, dir den gleichen Schmerz zu ersparen, mit dem ich seit fünfzehn Jahren leben muß.«

»Seit fünfzehn Jahren...« wiederholte Robin leise. »Seit dem Tag meiner Geburt, meinst du.«

»Was für ein Unsinn«, antwortete ihre Mutter. »Ganz im Gegenteil - ich weiß nicht, wie ich all diese Jahre ohne dich durchgestanden hätte. Ich weiß, was man sich im Dorf erzählt - daß er mich sitzengelassen hat, nachdem er dich gezeugt hat. Und ich nehme an, du hast das auch gehört.«

Robin reagierte nicht. Niemand hatte es jemals in ihrer Gegenwart so deutlich ausgesprochen, aber natürlich hatte ihre Mutter recht.

»Es ist nicht wahr«, fuhr ihre Mutter fort. »Er hat mich nicht im Stich gelassen. Ich wußte von Anfang an, daß die Männer nur bis zum Frühstück bleiben würden und daß der Soldat mit ihnen gehen würde. Deshalb wurdest du geboren.«

Nun war Robin regelrecht schockiert. Sie starrte ihre Mutter aus aufgerissenen Augen an.

»Es ist die Wahrheit«, bestätigte ihre Mutter. »Alle im Dorf glauben, daß du...« Sie lächelte flüchtig. »... eine Art Unfall warst. Daß ich nicht aufgepaßt habe. Aber es war Absicht. Ich hätte nicht gewußt, wie ich weiterleben sollte, nachdem er fortgegangen war.«

»Warum?«

»Weil er mir dasselbe angetan hat, was du dir im Moment selbst antust, Robin«, antwortete ihre Mutter. »Nicht aus böser Absicht. Der Soldat hätte mir niemals bewußt geschadet. Ich weiß nicht, ob er mich geliebt hat, aber ich weiß, daß er ein sehr sanftmütiger Mann war - obwohl er ein Krieger war. Es war allein mein Fehler.«

»Aber was denn nur?« fragte Robin verstört. Da war etwas wie... wie Zorn in ihr. Aber sie verstand einfach nicht, warum.

»Erinnere dich an Jan«, sagte ihre Mutter, anstatt direkt zu antworten. »Ich weiß, es tut weh, aber versuch es. Erinnere dich an das, was du gefühlt hast, als er dir seine Geschichten erzählt hat.«

»Aber die waren doch... alle nicht wahr«, sagte Robin stockend. Sie versuchte zu lachen, aber es blieb bei dem Versuch. »Er hat sich doch alles nur ausgedacht.«

»Das spielt keine Rolle«, behauptete ihre Mutter. »Trotzdem wolltest du diese Welt kennenlernen. Du hättest alles darum gegeben, sie nur ein einziges Mal zu sehen. Und du willst es immer noch. Dieser Junge hat deine Seele vergiftet, Robin. So wie der Soldat die meine. Es war keine böse Absicht. Ich bin sicher, daß Jan ein guter Mensch war, der dir nicht schaden wollte. Aber er hat es getan.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Es ist auch nicht zu verstehen«, sagte ihre Mutter traurig. »Du haderst mit deinem Schicksal, Kind. Ich hatte gehofft, daß dieser Moment nie kommt, aber vielleicht war diese Hoffnung naiv. Du bist jetzt kein Kind mehr, Robin. Bisher warst du mit dem Leben zufrieden, das du führst - das wir alle führen. Es ist ein einfaches Leben, aber du hast nie etwas anderes kennengelernt, und deshalb warst du zufrieden damit. Jan hat dir gezeigt, daß es noch mehr gibt, und es ist nur natürlich, daß du dich zu fragen beginnst, warum du nicht dieses andere Leben führen kannst.«

»Was ist so schlimm daran?« fragte Robin. Das Gespräch begann ihr immer unangenehmer zu werden. Sie wußte im Grunde längst, worüber ihre Mutter sprach.

»Du quälst dich nur selbst, Robin«, sagte ihre Mutter. »Die Wahrheit tut manchmal weh. Das hier ist unsere Welt, Robin. Unser Dorf, dieses Land... es ist der Platz, den Gott uns zugewiesen hat, und es steht uns nicht zu, seinen Willen in Frage zu stellen. Du wirst nur Schmerz und Leid finden, wenn du versuchst, dich ihm zu widersetzen. Ich habe es versucht, und ich habe mehr Schmerz gefunden, als ich dir jemals erzählt habe. Das möchte ich dir ersparen.«

Diese Worte entsprachen der Wahrheit, das spürte Robin genau. Aber genauso sicher spürte sie, daß es bereits zu spät war. Wenn Jan wirklich ihre Seele vergiftet hatte, wie ihre Mutter behauptete, dann tat dieses Gift bereits seine Wirkung.