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Aber das wollte sie nicht glauben. Ihre Mutter sagte zweifellos die Wahrheit von ihrem Standpunkt aus. Aber es war gerade dieser Standpunkt, den Robin weder akzeptieren konnte noch wollte. Ihrer Mutter war weh getan worden, sehr weh, und vielleicht konnte sie gar nicht mehr anders, als sich verbittert zurückzuziehen.

Was Jan ihr gezeigt hatte, war jedoch etwas vollkommen anderes. Ihre Mutter glaubte, daß sie mit dem Schicksal haderte, aber das stimmte nicht. Nicht so, wie sie selbst es seit fünfzehn Jahren tat. Ihre Mutter war unzufrieden mit ihrem Leben. Sie hatte Jahrzehnte der Gleichförmigkeit hinter sich, Jahre und Jahre und Jahre, in denen die einzige Abwechslung der Wandel der Jahreszeiten war und in denen es einen einzigen, flüchtigen Höhepunkt gegeben hatte, das Liebesabenteuer mit dem englischen Soldaten.

Aber sie fühlte sich anders. Sie haderte nicht mit dem Schicksal, wie ihre Mutter es ausgedrückt hatte - sie glaubte einfach nicht, daß es eine übergeordnete Macht im Universum gab, die jedem Menschen seinen festen Platz im Leben zugewiesen hatte. Sie war nicht bereit, sich damit abzufinden, und das war ein Unterschied.

»Je eher du verstehst, daß es sinnlos ist, sich gegen das Unvermeidliche aufzulehnen, desto leichter wird es für dich, glaub mir«, sagte ihre Mutter sanft. »Was du jetzt spürst, ist ganz normal. Du hast einen geliebten Menschen verloren, und du trauerst um ihn, aber du bist auch zornig. Der Schmerz wird vergehen, und es wird nicht das letzte Mal sein, daß du ihn spürst.«

Und plötzlich war der Zorn verflogen. Robin sah ihre Mutter an, und alles, was sie noch fühlte, war Mitleid. Es war nicht gerecht von ihr gewesen, zornig auf ihre Mutter zu sein, und sie schämte sich ihrer eigenen Gedanken.

»Ich möchte nicht, daß du weiter hierherkommst«, fuhr ihre Mutter nach einer Weile fort. »Ich verbiete es dir nicht. Du bist zu alt, als daß ich das könnte. Aber es... wäre besser, wenn du es nicht mehr tätest. Willst du mir das versprechen?«

Robin zögerte lange, ehe sie nickte, aber schließlich tat sie es. Sie wußte nicht einmal, ob sie dieses Versprechen wirklich halten würde, aber sie spürte, wieviel es ihrer Mutter in diesem Moment bedeutete.

»Darf ich noch... ein wenig bleiben?« fragte sie stockend.

»Aber natürlich«, erwiderte ihre Mutter mit einem warmen Lächeln. »Bleib ruhig, solange du willst, und nimm Abschied von deinen Freunden. Ich werde mit dem Essen auf dich warten.«

Und damit wandte sie sich um und ging mit raschen Schritten in Richtung Dorf davon. Robin sah ihr verwirrt nach. Daß die letzten Worte ihrer Mutter etwas so Gewöhnlichem wie dem Abendessen gegolten hatten, erschien ihr unangemessen, aber dann wurde ihr klar, warum sie das getan hatte: Es war die Rückkehr zur Normalität, zu ihrem täglichen, genau festgelegten Tagesablauf, in dem kein Platz für fremde Ritter, exotische Länder und ausgedachte Abenteuer war, und auch nicht für englische Soldaten.

Vielleicht wäre es das beste, wenn sie ihrer Mutter jetzt sofort folgte. Robin war klar, daß sie insgeheim darauf wartete. Statt dessen blieb sie einfach stehen und sah zu, wie die Gestalt ihrer Mutter allmählich kleiner wurde und dann mit dem grünen Schatten des Hains auf halber Strecke verschmolz.

Es war das letzte Mal, daß sie ihre Mutter sehen sollte. Hätte sie es in diesem Moment geahnt, dann wäre sie ihr nachgelaufen. So aber wartete sie einfach ab, wandte sich dann um und ging nach kurzem Zögern zur Kapelle hinüber. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, nicht mehr hierherzukommen, und auch wenn sie ahnte, daß sie dieses Versprechen auf die Dauer nicht halten würde, so würde sie zumindest für lange Zeit nicht hierher zurückkehren, Wochen, wenn nicht Monate - eine Ewigkeit, wenn man fünfzehn war und gerade angefangen hatte, das Leben zu entdecken. Doch nun wollte sie noch einmal die Kapelle sehen, um die kostbaren Erinnerungen, so grausam sie auch gewesen sein mochten, für alle Zeiten in sich einzuschließen.

In der Kapelle schien die Nacht bereits hereingebrochen zu sein. Es war spürbar kälter als draußen, und durch die schmalen, noch dazu zum Teil mit Brettern vernagelten Fenster drang nur wenig Sommerlicht in schrägen Bahnen herein, in denen der Staub tanzte wie eine Armee winziger Elfen und Feen. Robin wußte natürlich, daß es hier drinnen immer dunkler war als draußen, sogar an einem heißen Sommertag, aber heute erschien ihr diese Düsternis - die von den Erbauern dieses Gebäudes zweifellos beabsichtigt gewesen war - wie ein böses Omen, ein Vorbote aufkommendes, noch größeres Unheil als das, das diesen Ort bereits heimgesucht hatte.

Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht. Im Gegenteil - der Versuch schien es nur schlimmer zu machen, als hätte sie unabsichtlich an etwas tief in sich gerührt, das nun erwacht war und mit jedem Moment an Stärke zunahm.

Was war das? dachte sie verwirrt. Spürte sie nun die Gewalt und den Tod, die diesen Ort heimgesucht hatten, oder fühlte sie tatsächlich eine drohende, neue Gefahr, die sich über ihr zusammenballte?

Es wäre nicht das erste Mal.

Vor zwei Jahren, als sich Malte selbst mit dem Beil ins Bein gehackt hatte, da hatte sie es vorher gespürt; nicht genau was, aber daß etwas passieren würde, etwas Schlimmes, das mit Schmerzen und Blut und großer Aufregung zu tun hatte. Und im darauffolgenden Herbst, als Geros Scheune abbrannte, war sie eine Stunde zuvor mit klopfendem Herzen und schweißgebadet aufgewacht, ohne zu wissen, warum. Sie hatte sogar gewußt, daß das Feuer nicht auf den Rest des Dorfes übergreifen würde, wie eine Zeitlang alle befürchteten. Und sie hatte davor und danach eine Anzahl anderer, kleinerer Unglücksfälle vorausgeahnt - ein- oder zweimal sogar früh genug, um sie verhindern zu können. Jedenfalls nahm sie das an. Da ja nichts passiert war, hatte sie keinen Beweis dafür, daß etwas passiert wäre. Tatsache aber war, daß sie offenbar - wenn auch nur in begrenztem Maße - über die Gabe verfügte, kommendes Unheil vorauszusehen. Es geschah nicht oft, was zu einem Gutteil daran liegen mochte, daß das Dorf in seiner isolierten Lage von all den größeren und kleineren Katastrophen weitestgehend verschont blieb, die die Welt draußen heimsuchen mochten, aber es geschah.

Robin hatte niemals mit irgend jemandem über diese Gabe gesprochen, nicht einmal mit ihrer Mutter. Zum einen, weil es für sie gar nichts Besonderes war und sie anfangs glaubte, daß es jedem Menschen so erginge, zum größeren Teil aber wohl, weil ihr schon sehr früh klargeworden war, daß die Menschen Furcht vor allem empfanden, was fremd war, und je weniger sie es verstanden, um so größer war die Furcht. So hatte sie zum Beispiel einmal ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und einigen anderen belauscht, bei dem es um eine Frau aus dem Nachbardorf ging, die angeblich das zweite Gesicht haben sollte. Robin hatte damals nicht einmal gewußt, was das bedeutete, aber ihr war sehr wohl aufgefallen, daß ihre Mutter und die anderen zwar gelacht und ihre Scherze gemacht hatten, sich aber auch ein sachter Unterton vor Furcht in ihre Stimmen geschlichen hatte. Auch das Wort Hexe - so glaubte sie sich zu erinnern - war ein paarmal gefallen. Das mußte nicht unbedingt etwas bedeuten; niemand mochte die Leute aus dem Nachbardorf, und es gab für den Tratsch im Ort nichts Schöneres, als schlecht über sie zu sprechen. Trotzdem hatte Robin ihre Lehre aus diesem Gespräch gezogen. Es war besser, wenn niemand von ihrer Gabe erfuhr. Das Zweite Gesicht - mittlerweile wußte sie, was damit gemeint war - mochte ja ganz praktisch sein, aber wer würde schon jemanden mögen, der stets nur Unheil voraussagte? Außerdem meldete sich ihr sechster Sinn in letzter Zeit immer seltener. Und an jenem schrecklichen Abend, an dem Jan gestorben war, hatte er sie sogar ganz im Stich gelassen, so daß sie schon fast angefangen hatte, ihn zu vergessen.

Nun aber war er wieder da; so intensiv, als stünde jemand hinter ihr und flüstere ihr unverständliche, aber düstere Worte ins Ohr.