Etwas würde geschehen.
Etwas Schreckliches.
Bald.
Robin rieb sich fröstelnd die nackten Oberarme. Durch das dicke Mauerwerk und die kleinen Fenster war es hier drinnen nicht nur stets dunkler, sondern auch kühler als draußen, aber plötzlich schien es regelrecht kalt zu sein, als hätte sich in den Schatten jenseits des schräg einfallenden Sonnenlichts eine unsichtbare Tür in den Winter geöffnet, durch die nun ein eisiger Luftzug zu ihr herüberwehte. Sie versuchte, diese Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen, um sich selbst davon zu überzeugen, wie absurd diese Vorstellung war, aber es gelang ihr nicht.
Vorsichtig bewegte sie sich weiter in die Kapelle hinein. Als sie am Fenster vorbeiging, spürte sie tatsächlich die Wärme des Sonnenlichtes auf dem Gesicht, was ihr die zuvor empfundene Kälte noch bewußter machte. Unter ihren Füßen klapperte zerbrochenes Holz, dann stieß sie gegen etwas aus Metall, das mit einem leisen Klimpern davonrollte. Sie versuchte, ihm mit Blicken zu folgen, ließ sich in die Hocke sinken und sah ein flüchtiges, goldfarbenes Aufblitzen unter den Überresten einer zerbrochenen Bank. Sie tastete danach, zog die Hand wieder hervor und hielt eine kleine, goldene Münze in den Fingern. Vermutlich hatte Bruder Abbé sie verloren, als er in aller Hast seine Sachen zusammengerafft hatte.
Robin richtete sich wieder auf und drehte sich zum Fenster um, und als sie durch die schmalen Lücken zwischen den Brettern nach draußen sah, da wußte sie, daß ihr Gefühl sie diesmal nicht getrogen hatte.
KAPITEL 7
Am Anfang zählte sie nur drei Reiter, aber es wurden rasch mehr - vier, fünf, sechs, schließlich acht; große, gepanzerte Gestalten, die auf gewaltigen Schlachtrössern herangesprengt kamen. Die Sonne ging hinter ihnen unter und verwandelte sie in bedrohliche schwarze Schatten, den Geisterreitern gleich, von denen ihre Mutter ihr früher manchmal erzählt hatte; gequälte Seelen, die keine Ruhe fanden und bei Einbruch der Dunkelheit über das Land ritten, immer auf der Suche nach anderen, die sie in ihr düsteres Zwischenreich entführen konnten.
Aber das waren Geschichten gewesen, Märchen, mit denen man Kinder erschreckte und sie auf diese Weise davon abhielt, sich nach der Abenddämmerung noch in den Wäldern herumzutreiben. Diese Reiter dort draußen waren keine Geister. Sie waren höchst real, und Robin hätte ihre besondere Gabe nicht einmal gebraucht, um die Bedrohung zu spüren, die von dem dreiviertel Dutzend riesiger Gestalten ausging. Manchmal brach sich ein Sonnenstrahl auf Metall, und dann blitzte es silbern und rot auf, und Robin glaubte sogar zu spüren, wie der Boden unter dem Donnern der Pferdehufe vibrierte.
Im ersten Augenblick drohte sie in Panik zu geraten, und ihr erster Gedanke war, sofort aus der Kapelle zu stürzen und ins Dorf zurückzurennen. Praktisch im gleichen Moment wurde ihr aber auch klar, daß das nicht mehr ging: Die Reiter näherten sich nicht nur sehr schnell, sondern hielten auch direkt auf die Kapelle zu, und sie hatten die Sonne im Rücken, so daß sie sie sofort sehen würden, sobald sie die Kapelle verließ.
Irgend etwas sagte ihr, daß das ihr Tod wäre.
Robin trat zwei Schritte zurück und sah sich gehetzt nach einem Versteck um, fand es aber heute so wenig wie vor vier Tagen. Die Kapelle war einfach zu klein, um auch nur einem Kind ein Versteck zu bieten. Schließlich quetschte sie sich zwischen einen der offenstehenden Türflügel und die Wand; ein erbärmliches Versteck, aber zugleich auch das einzige, das ihr blieb.
Wie sich zeigte, war es jedoch gar nicht nötig, sich zu verbergen. Die Reiter näherten sich rasch. Bald hörte sie das Donnern der Pferdehufe wirklich, nicht nur in ihrer außer Rand und Band geratenen Phantasie, und dann auch das Schnauben der Pferde, das schwere Knarren von Leder und das Klirren von Metall. Die Reiter hatten die Kapelle erreicht, und sie konnte hören, wie sie abstiegen. Aber der Laut, auf den sie mit vor Angst klopfendem Herzen wartete, nämlich das Geräusch von Schritten, die sich der Kapelle näherten, kam nicht. Sie hörte nur gedämpfte Stimmen, konnte die Worte aber nicht verstehen.
Nach einer Weile schob sie sich behutsam aus ihrem Versteck heraus und näherte sich wieder dem Fenster. Sie hatte furchtbare Angst. Wenn jetzt jemand hereinkam, würde er sie sofort sehen, aber sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß sie ohnehin entdeckt werden würde, denn wenn einer der Männer hereinkam, dann gewiß nicht, um zu beten, sondern um die Kapelle zu durchsuchen.
Ihr Herz hämmerte so laut, daß sie sich fragte, ob die Reiter draußen es nicht hören mußten. Trotzdem ging sie weiter. Sie mußte erfahren, was die Männer sagten. Daß sie nichts Gutes im Schilde führten, sagte ihr mittlerweile nicht nur ihr Gefühl, sondern auch die pure Logik. Die Reiter hatten ihre Pferde auf der dem Dorf abgewandten Seite der Kapelle angehalten, was gewiß kein Zufall war - sie wollten verhindern, daß sie gesehen wurden.
Robin erreichte das Fenster, ließ sich auf die Knie sinken und spähte mit klopfendem Herzen nach draußen. Die Dunkelheit hier drinnen gewährte ihr Schutz; sie wußte, daß niemand sie sehen konnte, selbst wenn er direkt in ihre Richtung blickte. Trotzdem war sie fast wahnsinnig vor Angst. Von den Reitern ging etwas Unheimliches aus, ein Odem der Gewalt, der sie wie ein unsichtbarer Schatten umgab und seine Fühler längst schon in ihre Richtung ausgestreckt hatte.
Nun, als sie näher herangekommen waren, konnte Robin auch mehr Einzelheiten erkennen. Aber sie verstand nicht, was sie sah.
Vier der acht Männer trugen die weißen Mäntel und Wappenröcke der Tempelritter. Fast erschrocken hielt sie nach Bruder Abbé Ausschau, aber er war nicht unter den vier Männern. Sie waren ausnahmslos groß, hatten dunkle Haare und struppige Barte, und ein Gesicht fiel Robin ganz besonders auf. Der Mann mußte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein, hatte ein breites kantiges Gesicht und eine auffällige Narbe, die auf seiner Stirn begann, über Auge und Wange nach unten lief und schließlich in seinem schwarzen Vollbart verschwand. Sein Auge war jedoch unversehrt.
Die Reiter waren weitaus schwerer bewaffnet, als es Bruder Abbé gewesen war. Außer den Schwertern, die sie alle am Gürtel trugen, hatte jeder noch einen Morgenstern und trug einen dreieckigen Schild mit dem obligaten Kreuzsymbol am linken Arm. Sie hatten sich gerüstet, um in den Kampf zu ziehen. Sie warf einen Blick auf die Pferde und war nicht überrascht, Lanzen in ihren Steigbügeln stecken zu sehen. Eines der Pferde war ein schwarzweißer Schecke mit weißen Fesseln und einigen wenigen braunen Tupfen. Jans Pferd. Es gab gar keinen Zweifeclass="underline" Die Templer stammten aus der Komturei, aus der auch Jan und Bruder Abbé gekommen waren.
Die anderen Männer waren, soweit sie erkennen konnte, keine Templer. Alle schienen etwa im selben Alter zu sein - jedenfalls die drei, deren Gesichter sie erkennen konnte. Der vierte lag weit nach vorne gebeugt über dem Hals seines Pferdes. Sein Gesicht, das dem Fenster abgewandt war, war halb in der Mähne des Tieres vergraben, und seine Arme hingen so schlaff herab, daß er ebensogut hätte tot sein können.
Die drei anderen standen den Tempelrittern an Größe und Muskulösität um nichts nach. Auch sie waren bewaffnet, wenn auch nicht annähernd so schwer wie die vier Ritter, und zumindest einer von ihnen trug etwas, das einer Rüstung wenigstens nahekam: Ein kurzes Kettenhemd, das lose über seinem Gürtel hing, und einen zerschrammten Brustharnisch. Er hatte schulterlanges, lockiges blondes Haar, und sein Bart war scharf ausrasiert. Auf dem Schild, den er am linken Arm trug, war auf dunklem Grund ein einfaches Symbol zu erkennen, das ein zweiköpfiges Fabeltier darstellte. Das Wappen sagte Robin nichts, aber das Gesicht kam ihr vage bekannt vor - sie wußte nicht, wer dieser Mann war, aber sie glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben.
»Also merkt euch«, sagte der Blonde in diesem Moment. »Ihr wartet, bis wir den Wald erreicht haben, dann folgt ihr uns. Nicht eher, aber auch nicht später. Wenn ihr unterwegs auf einen dieser dummen Bauern trefft, dann erschlagt ihn. Aber gebt acht, daß man ihn auch findet.«