Gernot wollte antworten, aber der Reiter zu seiner Linken kam ihm zuvor: »Ihr wagt es, meinen Bruder zu bedrohen?« fragte er wütend. »Was erdreistet Ihr Euch, Drohungen gegen einen von Elmstatt auszusprechen?«
Er wollte sein Schwert heben, aber sein Bruder legte ihm rasch und beruhigend die Hand auf den Unterarm und drückte die Waffe herunter. »Laß ihn, Gundolf«, sagte er. »Für einen Tag ist genug Blut geflossen. Sie werden gehen, und unser Vater soll entscheiden, was weiter geschieht.«
Der Tempelritter lachte böse. »Wie edel. Man könnte fast glauben, daß Euch dieses Bauernpack wirklich etwas bedeutet.«
»Ihr tätet besser daran, es zu glauben«, sagte Gernot drohend.
»Genug, um Euer Leben für sie einzusetzen?«
Gernot verstand die Herausforderung, und er nahm sie an. Er machte eine Geste zu seinen beiden Begleitern, die wohl bedeutete, daß sie sich nicht einmischen sollten, lenkte sein Pferd ein Stück zur Seite und hob herausfordernd sein Schwert.
Der Tempelritter griff, ohne zu zögern, an.
Obwohl der Platz für die beiden Pferde kaum ausreichte, um Anlauf zu nehmen, schien der Boden unter dem Zusammenprall der beiden gewaltigen Schlachtrosse zu erzittern. Funken stoben auf, als die Schwerter der beiden Ritter klirrend aufeinanderprallten. Sowohl Gernot als auch der Templer wankten in ihren Sätteln, drangen aber sofort wieder aufeinander ein. Es war ein Kampf der Giganten, aber er dauerte nicht lange. Gernot und der Tempelherr hatten im Grunde genug damit zu tun, ihre scheuenden Pferde im Zaum zu halten, und tauschten nun drei oder vier wuchtige Hiebe. Dann traf das Schwert des Tempelritters Gernots linken Oberarm und drang durch sein Kettenhemd.
Denk daran, ich will den Arm nach einer Weile wieder benutzen können.
Gernot schrie auf, ließ sein Schwert fallen und schlug die Hand gegen seinen verletzten Oberarm. Blut quoll in einem dicken, zähflüssigen Strom zwischen den Fingern seines Kettenhandschuhes hervor. Er stöhnte, wankte im Sattel und wäre um ein Haar vom Pferd gefallen. Der Schlag war wohl härter gewesen, als er erwartet hatte, oder der Schmerz schlimmer.
Für den Moment war er wehrlos, und wäre der Kampf echt gewesen, hätte der Tempelritter ihn jetzt ohne Probleme aus dem Sattel werfen können oder auch töten. Aber er verzichtete darauf, sondern ließ sein Schwert nur noch einmal wuchtig durch die Luft zischen, um die Klinge vom Blut zu befreien. Dann stieß er sie mit einem verächtlichen Lachen in die lederne Scheide zurück.
»Ihr seid ein tapferer Mann, Gernot von Elmstatt«, sagte er abfällig. »Aber dumm. Bleibt bei Eurem Bauernpack, wenn Ihr es doch so liebt. Ich schenke es Euch!«
Und damit streckte er blitzschnell den Arm aus und stieß Gernot die flache Hand mit solcher Wucht gegen die Brust, daß er rücklings aus dem Sattel kippte und schwer zu Boden fiel.
Gernot schrie auf und riß sein Schwert in die Höhe, aber der Templer drehte nur lachend sein Pferd herum und sprengte davon, und seine drei Begleiter folgten ihm nur einen Augenblick später.
»Bleibt hier!« schrie Gundolf. »Verdammte Feiglinge! Stellt euch zum Kampf!«
Aber die vier Tempelritter waren längst in der Dunkelheit verschwunden.
»Feiglinge!« heulte Gundolf noch einmal, hieb wütend mit seinem Schwert in die leere Luft und ließ die Zügel knallen, so daß sein Pferd sich mit einem erschrockenen Sprung in Bewegung setzte.
»Gundolf!« keuchte Gernot. »Nicht! Komm zurück! Komm zurück!«
Die beiden letzten Worte hatte er geschrien, doch sein Bruder hatte sie wahrscheinlich gar nicht mehr gehört. Die trommelnden Hufschläge seines Pferdes verklangen rasch in der Nacht, und Gernot richtete sich mit einem Fluch auf und zerrte sich den Helm vom Kopf. Sein Gesicht war schweißüberströmt, aber so bleich wie das eines Toten.
»Otto!« befahl er. »Hol diesen jungen Narren zurück, bevor er sich selbst umbringt!«
Gernots verbliebener Begleiter - auch er trug Kettenhemd, Schild und einen Helm mit geschlossenem Visier, das sein Gesicht vollkommen verbarg - stieß sein Schwert in den Gürtel zurück und ließ sein Pferd antraben. Gernot richtete sich keuchend weiter auf, machte einen taumelnden Schritt und wäre um ein Haar wieder gestürzt. Seine Augen waren trüb vor Schmerz, und als er die Hand herunternahm, konnte Robin die klaffende, bis auf die Knochen reichende Wunde in seinem Oberarm erkennen. Der vermeintliche Tempelritter hatte seine eigene Kraft wohl unterschätzt. Nur eine Winzigkeit mehr, und er hätte Gernot den Arm glatt abgehauen.
»Ein Tuch, Kind«, murmelte Gernot. »Bring mir ein Tuch. Und etwas zum... Abbinden.«
Robin starrte ihn an. Sie bewegte sich nicht, und sie empfand auch immer noch nichts. Sie hätte diesen Mann hassen sollen. Sie hätte ihn hassen müssen, denn er trug die Schuld am Tod ihrer Mutter und aller anderen. Wie viele ihrer Freunde waren an diesem Abend gestorben? Fünf? Zehn? Ja, sie hätte ihn hassen müssen, aber sie empfand noch immer rein gar nichts. In ihr war immer noch diese schreckliche, kalte Leere, die vielleicht nie wieder weichen würde.
Ihr Blick bohrte sich noch für die Dauer eines weiteren, schweren Herzschlages in den Gernots, dann drehte sie sich herum und ging langsam davon.
KAPITEL 9
Zeit hatte für die Menschen im Dorf noch niemals viel bedeutet. Die Leute draußen in den Städten und Burgen und Gehöften mochten ihr Verstreichen in Stunden messen, in Minuten und vielleicht sogar Sekunden, aber hier hatten allenfalls Tageszeiten gegolten, darüber hinaus nur die Jahreszeiten.
Nun schien sie ihre Bedeutung vollends verloren zu haben.
Robin saß seit Stunden im Gras und starrte die Ruine ihres niedergebrannten Hauses an. Es mußten Stunden sein, denn es war den Dorfbewohnern mittlerweile gelungen, die meisten Brände zu löschen und ein Übergreifen des Feuers auf den Rest der Ortschaft zu verhindern. Nur Robins Heim und die beiden benachbarten Häuser waren vollkommen zerstört worden, alle anderen Brände waren gelöscht oder zumindest so weit eingedämmt worden, daß nicht mehr die Gefahr bestand, daß sie erneut aufflackerten. Eine Zeitlang war es sehr laut und hektisch ringsum geworden. Überall waren Menschen gewesen, die verzweifelt gegen die Flammen ankämpften, Wasser in die brennenden Gebäude gössen oder die Flammen mit Decken oder Sand zu ersticken versuchten, vor Schmerz schrien, wenn sie sich verbrannten und sich gegenseitig Warnungen zuschrien.
Später dann, als der Kampf gegen das Feuer gewonnen schien, war es etwas ruhiger geworden, und nun hatten die Menschen damit begonnen, die Toten wegzuschaffen. Robin war ein paarmal angesprochen worden, aber sie hatte nicht reagiert, und sie wußte nicht einmal, von wem (obwohl sie sich schemenhaft zu erinnern glaubte, daß es einmal sogar Gernot von Elmstatt gewesen war). Schließlich hatten die anderen wohl begriffen, daß sie in ihrem Schmerz einfach allein sein wollte.
Stunden, Minuten, vielleicht die ganze Nacht... sie wußte nicht, wie lange sie schon hier saß und aus blicklosen Augen auf das starrte, was von ihrem Geburtshaus übriggeblieben war. Das Dach und eine der Wände waren verschwunden, als hätten sie sich in der immensen Hitze einfach aufgelöst, und die stehengebliebenen Wände waren zu geschwärzten Ruinen zusammengesackt. Hier und da glühte es noch, und manchmal ertönte ein scharfes Knacken, und ein glühender Funkenschauer erhob sich in die Luft.
Robin sah es kaum. So wenig, wie sie das Verstreichen der Zeit registrierte, so wenig sah sie die Einzelheiten der Zerstörung. Sie saß reglos da, umklammerte ihre an den Leib gezogenen Knie mit den Händen und wartete darauf, daß der Schmerz kam. Er kam nicht. Die Betäubung, von der sie gehofft hatte, daß sie irgendwann einmal vergehen würde, hielt noch immer an. Vielleicht würde sie nie wieder imstande sein, irgend etwas anderes zu spüren als diese schreckliche, alles verschlingende Leere. Warum konnte sie nicht einfach sterben?