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Sie fiel jetzt langsam nach vorne. Etwas in ihr klammerte sich noch immer mit verzweifelter Kraft an den erlöschenden Lebensfunken, denn sie löste die linke Hand vom Hals und fing den begonnenen Sturz auf. Immer verzweifelter versuchte sie zu atmen, und für einen winzigen Moment war es ihr fast, als füllten sich ihre Lungen mit kostbarer, unendlich süßer Luft.

Aber es war nur ein verzweifelter Wunsch, nichts als kindlicher Trotz, der sich selbst gegen das Unausweichliche noch auflehnte.

Sie konnte nicht atmen.

Ihr Arm gab unter dem Gewicht ihres Körpers nach, und sie fiel endgültig nach vorne.

Alles wurde warm. Eine große Dunkelheit begann von ihren Gedanken Besitz zu ergreifen. Robin rollte auf die Seite. Ihr letzter, fast absurder Gedanke war, daß sie wenigstens noch einmal den Himmel über sich sehen wollte, ehe sie starb. Aber über ihr war kein Himmel, nur das lichte Blätterdach der Ulme.

Die Welt rings um sie herum erlosch.

Es begann eine Zeit der Pein. Es war kein körperlicher Schmerz - das auch, aber er war, obgleich schlimm, seltsam unwirklich, als wäre es gar nicht wirklich sie, die ihn fühlte -, sondern etwas viel, viel Schlimmeres, eine Qual, die ihre Seele heimsuchte und die entsetzlicher war als alles, was sie sich jemals hatte vorstellen können. In den wenigen Augenblicken, in denen sie nicht mehr als ein bloßer Lebensfunke war, der in einem Ozean reiner Qual trieb, wurde ihr plötzlich erschreckend klar, daß sie sich wohl im Fegefeuer befinden mußte, jenem Vorhof der Hölle, von dem die alte Janna so oft gesprochen und mit dem ihre Mutter ihr manchmal (aber nicht im Ernst) gedroht hatte. Dieser schreckliche Ort konnte nicht der Himmel sein, und sie hatte in ihrem kurzen Leben nichts getan, was schlimm genug gewesen wäre, sie zu ewiger Verdammnis in der Hölle zu verurteilen. Aber sie war tot. Otto hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, und wenn dieser Ort weder der Himmel noch die Hölle war, dann mußte es zwangsläufig das Fegefeuer sein.

Trotz aller Schrecken und allen Leids hatte der Gedanke etwas Beruhigendes. Jede Sekunde, die sie existierte, war pure Qual, aber sie wußte nun, daß es nicht für die Ewigkeit war.

Zumindest schien es sich jedoch um einen Gutteil der Ewigkeit zu handeln, denn die Qual nahm kein Ende. Sie wurde von Fieber und Krämpfen geschüttelt, und manchmal wachte sie mit dem grauenhaften Gefühl auf, ersticken zu müssen - was vollkommen absurd war, denn sie war schließlich schon tot. Nur manchmal, ganz selten, und in Abständen von Jahren oder auch Jahrhunderten, glaubte sie ein Gesicht zu sehen, das nicht in diesen Vorhof der Hölle zu passen schien. Es war ein junges, fremdartiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, kupferfarbener Haut und Augen, in denen sich das Wissen um uralte Geheimnisse mit großer Sanftmut, aber auch mindestens ebenso großer Stärke paarte; ein sehr schönes, aber trotzdem auch sehr männliches Gesicht. Wahrscheinlich das Antlitz eines Engels, der von Zeit zu Zeit vorbeikam, um nachzusehen, ob ihre Seele schon weit genug geläutert war, damit man sie aus dem Fegefeuer entlassen könnte.

Und irgendwann war es dann schließlich soweit. Ihr Bewußtsein klärte sich wieder, aber diesmal fand sie sich nicht am Grunde eines Ozeans aus rotem Schmerz und erstickender Qual wieder, sondern an einem ihr vollkommen unbekannten Ort. Allerdings bezweifelte sie, daß es sich um den Himmel handelte.

Wenn dies das Paradies war, dann war es vollkommen anders, als irgendein Mensch auf der Welt es sich je vorgestellt hatte.

Sie lag auf einem schmalen, nicht besonders bequemen Bett. Aus irgendeinem Grund war sie nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu rühren, geschweige denn den Kopf zu drehen, so daß alles, was sie sah, die Decke über ihr war. Irgendwann einmal mußte sie wohl weiß getüncht gewesen sein, aber viele Jahre hatten sie in ein unansehnliches Durcheinander aus Schmutz- und Wasserflecken verwandelt. Es war sehr warm, und ein unangenehmer, strenger Geruch lag in der Luft, der Geruch nach Krankheit und menschlichen Ausscheidungen, aber auch nach bitterer Medizin und Kräutern.

Sie hörte Geräusche: Ein Klappern und Hantieren, Schritte und das Rascheln von grobem Stoff. Dann eine Stimme: »Ich habe Euch doch gesagt, daß sie heute morgen wach wird, Bruder. Sie ist erwacht. Aber bitte strengt sie noch nicht zu sehr an. Sie ist noch sehr schwach.«

Schritte näherten sich, und sie spürte, wie jemand neben ihr Bett trat, konnte aber nur einen Schatten ganz am Rande ihres Gesichtsfeldes erkennen. Sie versuchte noch einmal und jetzt mit aller Energie, den Kopf zu drehen, aber es war, als wäre sie vollkommen gelähmt. Vielleicht war sie es.

»Es ist ein Wunder«, sagte die Stimme links neben ihr. Sie kam ihr vage bekannt vor, aber sie wußte nicht, woher. »Gott der Herr hat uns wieder einmal seine Allmacht demonstriert und an diesem Menschenkind ein Wunder gewirkt!«

Ein Räuspern, dann sagte die erste, leisere Stimme: »Vielleicht mit einem ganz klein wenig Mithilfe ärztlicher Kunst.«

»Versündigt Euch nicht, Bruder Tobias. Gott der Herr verabscheut Hoffärtigkeit. Und ich auch, nebenbei bemerkt.«

Der Schatten verschwand aus ihrem Augenwinkel. Schritte umkreisten das Bett, und als die Gestalt auf der anderen Seite in ihr Blickfeld trat, wußte Robin endgültig, daß sie nicht im Himmel war.

Das Gesicht, das unter einem fast kahlen Schädel hervor auf sie herabblickte, gehörte Bruder Abbé. Das hier konnte nicht der Himmel sein.

Dabei hatte sie im ersten Moment fast Mühe, ihn überhaupt wiederzuerkennen. Ohne sein Kettenhemd und den weißen Wappenrock wirkte er vollkommen verändert. Er trug nur ein schlichtes, graues Gewand, das an eine Mönchskutte erinnerte, und als einzigen Schmuck ein - allerdings sehr großes - goldenes Kreuz, das an einer ebenfalls goldenen Kette vor seiner Brust hing. Irgendwie war er immer noch eine beeindruckende Erscheinung, nun aber auf eine vollkommen andere Art als zuvor, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte.

Bruder Abbé ließ ihr ausreichend Zeit, um sein Gesicht zu betrachten und sich davon zu überzeugen, daß er auch tatsächlich der war, für den sie ihn hielt, dann lächelte er und sagte: »Du siehst richtig, mein Kind. Gottes Wege sind manchmal unergründlich, meinst du nicht auch?«

Sie wollte antworten, aber ihre Stimme versagte ihr ebenso den Gehorsam wie der Rest ihres Körpers. Als sie es trotzdem versuchte, war das einzige Ergebnis ein heftiger Schmerz, der ihre Kehle zu zerreißen schien.

»Versuche nicht zu sprechen, Kind.« Ein zweiter, etwas älterer Mann in einer grauen Mönchskutte erschien neben Bruder Abbé und lächelte sie an. Er hatte ein schmales, fast asketisch wirkendes Gesicht, aber sehr freundliche Augen und schmale Hände, die ständig in Bewegung waren und einen äußerst geschickten Eindruck machten. »Es wäre nicht gut, wenn du dich zu sehr anstrengst.«

»Hör nicht auf Bruder Tobias«, sagte Abbé grinsend. »Er ist ein alter Schwarzseher. Wenn es nach ihm ginge, dann stünde der Jüngste Tag bevor, und zwar jeden Tag.«

»Ich sage nur, daß sie sich nicht anstrengen darf«, sagte Tobias beleidigt. »Und schon gar nicht reden.«

»Es wäre aber besser, wenn sie es könnte«, erwiderte Abbé. »Ich meine: Es könnte von einiger Wichtigkeit sein, zu erfahren, warum ein Mädchen aus einem Dorf, das einen halben Tagesritt entfernt ist, mit durchgeschnittener Kehle vor den Toren unserer Komturei gefunden wird - neben einem Pferd, das am Tag zuvor von unserer Weide gestohlen wurde.« Er wandte sich wieder direkt an Robin. »Nun, mein Kind? Ich weiß, ich verlange viel, aber vielleicht nur einige winzige Worte?«

Tobias verdrehte die Augen. »Abbé! Sie kann nicht reden, selbst wenn sie es wollte! Es wird Wochen dauern, bis sie wieder sprechen kann. Wenn überhaupt.«

Abbé sah ganz so aus, als wolle er auffahren, aber dann beherrschte er sich mit einiger Mühe und zwang sich sogar wieder zu einem Lächeln. »Also gut, dann versuchen wir es auf eine andere Art. Wenn du mich verstehst, dann schließ einfach die Augen. Einmal für ja, zweimal für nein. Hast du das verstanden?«