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Lange Zeit rührte sich nichts, so lange, daß Robin schließlich zu dem Schluß kam, daß sie nichts Interessantes mehr zu sehen bekommen würde und sie hier hocken konnte, bis sie schwarz wurde. Was also sollte sie tun? Zurückgehen und das Donnerwetter, das mit Sicherheit über sie hereinbrechen würde, für nichts und wieder nichts in Kauf nehmen? Das erschien ihr nicht sinnvoll. Was sie erwartete, konnte schwerlich viel schlimmer werden, wenn sie sich um einige weitere Minuten verspätete. Also löste sie sich behutsam aus ihrer Deckung und näherte sich geduckt der Kapelle.

Unter einem der beiden schmalen Fenster auf dieser Seite kauerte sie sich schwer atmend zusammen und lauschte. Im ersten Augenblick hörte sie nichts außer dem Schlagen ihres eigenen Herzens, das ihr so laut vorkam, daß man es eigentlich bis zum Meer hinunter hören mußte. Dann aber identifizierte sie zwei Stimmen, die miteinander flüsterten. Eine davon gehörte Helle, also mußte die andere folglich die des Jungen sein.

Und nun, wo sie schon einmal so weit gekommen war, würde sie natürlich auch nachsehen, was die beiden da drinnen eigentlich trieben. Sie schob sich vorsichtig an der rauhen Wand entlang in die Höhe und hatte das Fenster fast erreicht, als eine harte Hand sie im Genick packte und so abrupt zurückriß, daß sie einen keuchenden Schrei ausstieß - allerdings nur für einen kurzen Moment, denn schon im nächsten Augenblick legte sich ihr eine zweite, ebenso starke Hand über Mund und Nase und erstickte nicht nur ihren Schrei, sondern nahm ihr auch den Atem.

Robin begann verzweifelt mit den Beinen zu strampeln und um sich zu schlagen, wurde aber trotzdem in die Höhe gerissen und grob herumgezerrt.

»Jan, was ist los?« drang eine dunkle Stimme aus dem Haus.

»Nichts, Herr«, antwortete die Gestalt, die sie gepackt hielt. Nach einem kurzen Lachen fügte sie hinzu: »Nur ein streunender Köter, wie ich vermutet habe.«

Robin wurde von der Kapelle fortgezerrt. Nach ein paar Sekunden hörte sie auf, sich zu wehren, und dann gab sie auch den Versuch auf, einen hohen spitzen Hilfeschrei auszustoßen. Sie bekam keine Luft mehr. Wenn der Bursche sie nicht bald losließ, würde sie ersticken.

Der Fremde tötete sie nicht, aber er war kurz davor, ehe er Robin endlich losließ und grob zu Boden warf. Sie fiel, rollte, verzweifelt nach Luft ringend, auf den Rücken und sah eine riesige, verzerrte Gestalt über sich aufragen. Etwas Helles, Silberfarbenes schimmerte in der Hand des Angreifers, und kaltes Metall berührte Robins Kehle.

»Nein!« keuchte sie. »Bitte, Herr, ich...«

»Nicht so laut«, zischte der schwarzhaarige Riese. »Wenn du weiter so schreist, muß ich dir die Kehle durchschneiden. Willst du das?«

Robin schüttelte stumm den Kopf. Sie hätte vor lauter Angst mittlerweile sowieso keinen Ton mehr herausgebracht, aber sie erkannte immerhin, daß ihr Bezwinger alles andere als ein Riese war. Ihre eigene Angst hatte ihn dazu gemacht. Es war kein anderer als der schwarzhaarige Junge, den sie zusammen mit Helle gesehen hatte. Aber das silberfarbene Metall in seiner Hand war ein Schwert, und die rasiermesserscharfe Klinge drückte mit solcher Kraft gegen ihre Kehle, daß sie kaum zu atmen wagte.

»Sind wir uns einig?« fragte Jan.

Robin deutete ein Nicken mit den Augen an und wies mit der linken Hand auf das Schwert an ihrem Hals. Jan ließ die Klinge jedoch noch einige Augenblicke lang, wo sie war, und musterte sie in dieser Zeit ebenso aufmerksam wie mißtrauisch. Dann aber zog er es mit einem Ruck zurück und schob es in die lederne Scheide, die er samt des dazugehörigen Waffengurts in der linken Hand hielt.

»Für dich brauche ich keine Waffe«, sagte er abfällig - was vermutlich der Wahrheit entsprach. Robin hatte ja gerade am eigenen Leibe erfahren, um wie vieles stärker er war als sie.

Sie setzte sich vorsichtig auf, betastete ihren Hals und betrachtete anschließend ihre Fingerspitzen. Es klebte kein Blut daran.

Jan lachte leise. »Keine Angst, Bursche - dein Kopf sitzt noch auf deinem ungewaschenen Hals. Aber das muß nicht unbedingt noch lange so bleiben«, fügte er in übertrieben gespielt drohendem Ton hinzu. »Wie ist dein Name?«

»Robin«, antwortete Robin. »Und du bist... Jan?«

»Jedenfalls hast du gute Ohren«, sagte Jan. »Hast du auch so gute Augen, Kerl?«

Offensichtlich hielt er sie für einen Jungen, und Robin sah in diesem Augenblick keine Veranlassung, diesen Irrtum richtigzustellen. Sie glaubte zwar zu spüren, daß Jans auftrumpfendes Gehabe nur gespielt war, aber man konnte schließlich nie wissen. Das Leben eines Mädchen galt nun einmal weniger als das eines Jungen, das war schon immer so gewesen und würde wohl auch immer so bleiben. Vielleicht saß das Schwert doch nicht ganz so locker in seiner Scheide, wenn er sie für einen Jungen hielt.

Robin betrachtete die Waffe nervös. Seltsam - sie war fast sicher, daß Jan sie vorhin nicht bei sich gehabt hatte.

»Bist du zu stur, mir zu antworten, oder einfach nur blöde?« herrschte Jan sie an.

»Nein«, antwortete Robin hastig.

»Nein - was?« fragte Jan. »Du bist blöde.«

»Ich habe nur nicht verstanden, was... was du überhaupt meinst«, antwortete Robin stockend. »Ich habe nichts gesehen.«

»Deshalb bist du uns auch nachgeschlichen«, sagte Jan spöttisch.

»Ich habe dich zusammen mit Helle gesehen«, gestand Robin. »Und... und weil du ein Fremder bist und Fremde so selten in unser Dorf kommen...«

»...hast du dir gedacht, du spionierst uns mal ein bißchen hinterher, um zu sehen, was wir in dieser alten Kapelle so treiben«, führte Jan den Satz zu Ende. Er griente. »Na, was glaubst du denn, was im Moment da drüben in der Kapelle so alles passiert?«

Er lachte, aber er tat es auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die Robin spüren ließ, daß er eigentlich von ihr erwartete, in dieses Lachen einzustimmen. Zugleich aber setzte der Scherz, für den er seine Worte offensichtlich hielt, ein Wissen voraus, das sie einfach nicht besaß.

»Helle ist dort drinnen«, sagte sie so. »Zusammen mit... noch jemandem.«

Jan starrte sie für die Dauer eines Atemzuges eindeutig fassungslos an, dann begann er zu lachen - nicht besonders laut, aber dafür um so ausdauernder.

»Ja«, sagte er kichernd. »So könnte man es nennen. Sie ist mit jemandem zusammen.« Er schüttelte den Kopf. »Hat dein Vater dir eigentlich gar nichts übers Leben beigebracht? Über das, was Männer und Frauen miteinander so treiben?«

»Mein Vater ist tot«, antwortete Robin.

»Oh«, sagte Jan. »Das tut mir leid.«

»Ich habe ihn gar nicht gekannt«, sagte Robin. »Er ist gestorben, bevor ich zwei Jahre alt war.« Sie war selbst ein wenig erstaunt, wie glatt ihr diese Lüge von den Lippen ging, aber sie las in Jans Gesicht, daß es ganz das war, was er in diesem Moment hören wollte.

»Und deine Mutter hat dir natürlich alles Lebenswichtige unterschlagen.« Jan schmunzelte noch immer, schüttelte aber dann den Kopf und wurde schlagartig wieder ernst. »Trotzdem haben wir ein Problem, Robin. Was soll ich jetzt mit dir tun?«

»Tun?«

»Tun«, bestätigte Jan ernst. »Mit dir, Robin. Ich meine, ich kann dich nicht einfach gehen lassen.«

»Warum nicht?«

Jan sah kurz zur Kapelle hin, ehe er antwortete. »Du hast vollkommen recht. Deine Helle trifft sich dort mit jemandem - mit meinem Herrn nämlich.«

»Und wer ist dein Herr?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Aber niemand darf von diesem Treffen wissen. Euer ganzes Dorf könnte in Gefahr geraten, wenn es bekannt würde. Und mein Herr übrigens auch. Als sein Leibwächter kann ich das natürlich nicht zulassen.«

»Leibwächter?« fragte Robin. »Was ist denn das?«

Jan maß sie mit einem Blick, der ganz deutlich fragte: Weißt du denn eigentlich gar nichts, du Dummkopf?, antwortete aber trotzdem: »Ich habe geschworen, das Leben und das Wohlergehen meines Herrn zu schützen. Wenn es sein muß, mit meinem eigenen Leben.«