Plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, war alles wieder da. Die Nacht, in der ihr Dorf gebrannt hatte. Die schrecklichen Minuten unter der alten Ulme. Die riesenhafte Gestalt des Tempelritters, die sie gegen den Baum preßte ... Robin begann am ganzen Leib zu zittern. Sie war verloren! Ihr Alptraum war kein Alptraum gewesen. Sie war im Fegefeuer, und die Dämonen der Hölle machten sich dort unten bereit, um ihre Seele zu holen und...
Robin kämpfte die aufkommende Panik mit aller Gewalt nieder. Ihr Innerstes war in Aufruhr. Sie ballte die Hände so fest zu Fäusten, daß es weh tat, klammerte sich mit aller Macht an den dünnen, stechenden Schmerz, als wäre er das einzige, was ihren Geist noch davor bewahren konnte, endgültig in die Abgründe des Wahnsinns abzugleiten.
Es gab keinen Grund, in Panik zu geraten, hämmerte sie sich selbst ein. Sie hatte schließlich gewußt, wo sie sich befand. Bruder Abbé war der erste gewesen, den sie nach ihrem Erwachen gesehen hatte. Sie hatte gewußt, daß er ein Tempelritter war - und wo einer von ihnen war, da konnten schließlich auch noch mehr sein, oder? Es gab nicht den mindesten Grund, beim Anblick der Templer zu erschrecken!
Aber es war eine Sache, etwas zu wissen, und eine ganz andere, es mit eigenen Augen zu sehen ...
Robin zwang sich, tief einzuatmen - es tat weh, aber dieser neuerliche Schmerz half ihr im Moment, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren -, schloß für die Dauer eines Atemzuges die Augen und öffnete die verkrampften Fäuste. Es half. Als sie wieder auf den Hof hinabsah, hatten die gepanzerten Gestalten einen Großteil ihres Schreckens eingebüßt.
Sie erkannte jetzt, daß es sich bei einer von ihnen um Bruder Abbé handelte. Der kahlköpfige Tempelherr war selbst über die große Entfernung hinweg nicht zu verwechseln. Er war ein gutes Stück kleiner als seine Begleiter, schlug jeden einzelnen von ihnen dafür aber mit Leichtigkeit, was den Leibesumfang anging. Hätte Robin nicht mit eigenen Augen gesehen, wie sich dieser kleine, kurzbeinige Mann im Kampf zu bewegen vermochte, so wäre er ihr schlichtweg lächerlich vorgekommen, vor allem zwischen den anderen, ausnahmslos hochgewachsenen Kreuzrittern.
Die Tempelritter bewegten sich in einer geraden Linie und ohne Hast über den Hof und auf das Tor zu. Als sie es fast erreicht hatten, tauchten vier Reiter darunter auf. Alle waren schwer bewaffnet und trugen Lanzen und Schild, auf denen ein Robin nur zu vertrautes Symbol prangte: Ein zweiköpfiges Fabeltier. Einer von ihnen trug den linken Arm in einer Schlinge. Robins Atem stockte. Schließlich wußte sie genau, wen sie vor sich hatte.
Die Reiter kamen nicht etwa gemächlich auf den Hof geritten, sondern sprengten in vollem Galopp herein und hielten auf Abbé und die anderen Tempelritter zu, so schnell, daß Robin kaum noch überrascht gewesen wäre, hätten sie ihre Lanzen angelegt, um die Männer in Weiß und Rot einfach über den Haufen zu reiten. Erst im buchstäblich allerletzten Moment rissen sie ihre Pferde zurück. Es hätte beeindruckend ausgesehen, hätte nicht eines der Tiere gescheut und wäre ausgebrochen, und ein zweites mit einem protestierenden Wiehern auf die Hinterläufe gestiegen, so daß sein Reiter plötzlich alle Mühe hatte, nicht aus dem Sattel zu rutschen. Die wild ausschlagenden Vorderhufe schnitten kaum eine Handbreit vor Bruder Abbés Gesicht durch die Luft, aber der Tempelritter wich nicht um einen Schritt zurück. Diese Runde, dachte Robin mit einer Mischung aus Schadenfreude und widerwilliger Bewunderung, ging eindeutig an Bruder Abbé.
Es vergingen noch einige Augenblicke, bis die Reiter ihre Tiere wieder vollends in der Gewalt hatten, was den mit Sicherheit geplanten dramatischen Auftritt nun vollends zunichte machte. Die Reiter nahmen in einer geraden Reihe vor den Templern Aufstellung, und eigentlich hätten sie beeindruckend wirken müssen, hoch zu Roß und mit aufgereckten Lanzen, deren Wimpel im Wind flatterten.
Das genaue Gegenteil war der Fall. Gegen die reglos dastehende Reihe der Tempelritter wirkten die Reiter geradezu erbärmlich; wie Kinder, die versuchten, Erwachsene nachzuäffen.
Hinter ihr erklang das Geräusch der Tür, aber Robin drehte sich nicht herum; sicherlich war es nur Bruder Tobias, der sein Gebet beendet hatte und zurückkam, um nach dem Rechten zu sehen. Robin konzentrierte sich ganz auf das Geschehen im Hof. Sie hätte ihre rechte Hand dafür gegeben, zu hören, was dort unten besprochen wurde. Aber sie war viel zu weit entfernt, um auch nur die Stimmen zu hören, geschweige denn die Worte.
Das war aber auch nicht notwendig, um zu erkennen, daß dort unten auf dem Hof ein heftiger Streit im Gange war. Die Reiter gestikulierten immer heftiger, und ein- oder zweimal senkte einer von ihnen auch die Hand auf das Schwert. Der Ausbruch von Gewalttätigkeiten stand unmittelbar bevor.
»Er spielt mit seinem Leben, dieser Narr«, sagte eine Stimme neben ihr.
Robin wandte nun doch den Blick und fuhr leicht zusammen, als sie sah, daß sie sich getäuscht hatte - es war nicht Bruder Tobias, der hereingekommen war, sondern Salim.
»Verzeih«, sagte der junge Tuareg. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber du solltest dich wieder hinlegen. Tobias trifft der Schlag, wenn er hereinkommt und dich hier stehen sieht.«
Robin machte eine wegwerfende Geste und deutete fast gleichzeitig auf den Hof hinab. Salim verstand. »Ich verstehe auch nicht genau, was dort passiert«, sagte er stirnrunzelnd. »Ich weiß nur, daß dieser Dummkopf mit seinem Leben spielt - oder zumindest mit seiner Gesundheit. Abbé ist kein Mann, der sich bedrohen läßt. Er ist nicht so geduldig, wie viele glauben.«
Robin gestikulierte weiter auf den Hof hinab, dann drehte sie sich ganz zu Salim um, machte ein fragendes Gesicht und fuhr mit dem Zeigefinger von der Stirn abwärts über Auge und Wange hinab.
Salim runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht...«
Robin wiederholte ihre Bewegung, schneller und hektischer diesmal, dann deutete sie wieder auf den Hof hinunter.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Salim hilflos. Er blickte an ihr vorbei auf den Hof hinunter, hob seufzend die Schultern und nickte dann. »Ich werde hinuntergehen und nachsehen«, sagte er. »Auch wenn ich immer noch nicht weiß, wonach überhaupt.«
Er ging. Robin sah ihm nach, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und ihr fiel auf, wie elegant und schnell sich der Tuareg bewegte. Er schien kaum wirklich zu gehen, sondern rasch und fast lautlos zu gleiten, als wäre er nicht mehr als ein Schatten, dem der Blick kaum zu folgen vermochte. Der Anblick löste etwas in ihr aus, das sie nicht verstand, das aber keineswegs unangenehm war.
Sie verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen auf dem Hof. Die Debatte schien sich ihrem Ende zuzuneigen. Zwei der vier Reiter hatten ihre Pferde bereits gewendet, während die beiden anderen noch hitzig mit Bruder Abbé stritten. Salirn würde zu spät kommen, aber Robin wußte nicht einmal, ob sie das bedauern sollte oder nicht. Manchmal war die Ungewißheit viel leichter zu ertragen als die Wahrheit.
Sie wartete, bis sich auch die beiden anderen Reiter herumgedreht hatten und der ganze Trupp den Hof verließ, dann wandte auch sie sich mühsam um und ging auf etwas wackeligen Beinen zum Bett zurück. Sie spürte plötzlich wieder, wie müde sie war. Die Anstrengung, am Fenster zu stehen, und vor allem wohl auch die Aufregung und die Furcht hatten sie zusätzlich erschöpft. Beinahe mit letzter Kraft erreichte sie das Bett und ließ sich darauf fallen. Als Bruder Tobias wenige Minuten später die Kammer betrat, war sie bereits in einen tiefen und diesmal traumlosen Schlaf gesunken.
KAPITEL 12
Es mußte wohl so sein, wie Bruder Tobias gesagt hatte - Schlaf war immer noch die beste Medizin. Sie dämmerte den ganzen Tag - und auch noch einen Gutteil des darauffolgenden - mehr oder weniger vor sich hin. Ein paarmal wachte sie auf, wenn Bruder Tobias sich zum Beispiel an dem Verband an ihrem Hals zu schaffen machte oder sie weckte, um ihr einen Schluck Wasser oder einen Löffel lauwarme Suppe einzuflößen, und jedesmal, wenn sie die Augen öffnete, blickte sie als erstes in Salims Gesicht. Später erfuhr sie, daß der junge Tuareg die ganze Zeit an ihrem Bett gesessen und Wache gehalten hatte. Er wurde auf diese Weise innerhalb eines einzigen Tages nicht nur zu einem Vertrauten, sondern beinahe zu so etwas wie einem lieben alten Freund, ganz einfach, weil sein bronzefarbenes Gesicht immer da war, wenn sie die Lider hob, und das erste, was sie sah, stets der besorgte Blick seiner braunen Augen war. Ohne daß es ihr bewußt wurde, begann Salim zu einem ruhenden Pol des Vertrauens und der Wärme für sie zu werden; vielleicht zu dem einzigen sicheren Fels in dem tobenden Ozean einander widerstrebender Empfindungen, in den sich ihr Leben verwandelt hatte.