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Für einen Moment war sie wehrlos. Sie wankte. Alles drehte sich um sie, und sie brach nur deshalb nicht zusammen, weil sie schon halb besinnungslos an der Wand lehnte. Hätte der Angreifer den Moment ausgenutzt, hätte er sie töten können, ohne daß sie auch nur Widerstand leistete.

Der Bursche verzichtete aber darauf. In dem immer hektischer werdenden Flackern der Blitze sah sie, daß auch er zwei, drei Schritte zurückgetaumelt war und die Hand unter die linke Achsel gepreßt hatte. Er krümmte sich vor Schmerz. Der Dolch war seiner anderen Hand entglitten und zu Boden gefallen. Seine Spitze war abgebrochen, als er gegen die Wand geprallt war.

»Verdammt! Miststück!« stöhnte er. »Du hast mir fast die Hand abgebissen! Das wirst du mir bezahlen! Ich wollte es schnell tun, aber jetzt wirst du leiden!« Er lachte. »Schreien kannst du ja nicht, nicht wahr?«

Das Dröhnen hinter Robins Schläfen ließ allmählich nach. Ihr Herz hämmerte, als wolle es zerspringen, und sie zitterte noch immer am ganzen Leib, aber ihre Kräfte kehrten rasch wieder zurück. Trotzdem blieb sie in unveränderter Haltung stehen und tat so, als könne sie sich nur noch mit letzter Kraft auf den Beinen halten. Sie hatte nur noch eine einzige, verzweifelte Chance.

Und sie nutzte sie.

Der Angreifer kam wieder näher, maß sie mit einem lauernden Blick und bückte sich, um seinen Dolch aufzuheben. Robin legte jedes bißchen Kraft, das ihr noch geblieben war, in eine einzige verzweifelte Bewegung und trat ihm ins Gesicht.

Der Mann brüllte vor Überraschung und Schmerz und kippte nach hinten, und Robin stieß sich von der Wand ab, sprang mit dem Mut der Verzweiflung einfach über ihn hinweg und stürmte aus der Tür.

Nach drei Schritten prallte sie gegen eine Gestalt, die scheinbar aus dem Nichts vor ihr auftauchte.

Diesmal verlor sie das Gleichgewicht. Sie prallte ungeschickt gegen die Wand und fiel auf die Knie herab. Etwas Heißes spritzte auf ihre Hände und ihr Gesicht, und in der Dunkelheit vor ihr erscholl ein wütender Fluch. »Was zum Teufel...?«

Zwei grelle Blitze flammten nahezu gleichzeitig auf und enthüllten ihr die Gestalt von Bruder Tobias, der dicht vor ihr mit fast komisch aussehenden Bewegungen um sein Gleichgewicht kämpfte - ein Unterfangen, das noch zusätzlich dadurch erschwert wurde, daß er einen Krug mit einer dampfend heißen Flüssigkeit in den Händen balancierte. Ein unglaublich lauter, rollender Donnerschlag verschluckte den Rest seiner Worte und bewahrte ihn so davor, sich noch weiter zu versündigen.

Mit einiger Mühe fand er sein Gleichgewicht wieder, und Robin rappelte sich mühsam hoch und sah hinter sich. Von dem Angreifer war noch nichts zu sehen, aber sie konnte in den Pausen zwischen den Donnerschlägen hören, wie er aufstand und sich polternd durch das Zimmer bewegte. Sie wollte weiterrennen, aber Tobias griff blitzschnell zu und hielt sie mit überraschender Kraft fest.

»Kind, was ist denn nur los?« keuchte er. »So beruhige dich doch! Du bist ja vollkommen...«

Er brach ab. Ein grellweißer Blitz zerriß die Nacht außerhalb des Turms und verwandelte sein Gesicht in eine wächserne Totenmaske, deren schreckgeweitete Augen auf einen Punkt irgendwo hinter ihr gerichtet waren. Robin riß sich endgültig los, fuhr in der gleichen Bewegung herum und sah den maskierten Angreifer mit gewaltigen Schritten auf sich zustürmen. Seine rechte, heftig blutende Hand hielt jetzt wieder den Morgenstern, dessen stachelbewehrte Kugel sich in ein silbern fließendes, tödliches Rad dicht über seinem Kopf verwandelt hatte. Er war noch zwei Schritte entfernt, dann noch einen, und Bruder Tobias reagierte mit einer Schnelligkeit und vor allem Kaltblütigkeit, die sie ihm niemals zugetraut hatte.

Mit einem blitzschnellen Schritt trat er zwischen sie und den maskierten Mörder, hob seinen Krug und schüttete ihm dessen brühheißen Inhalt ins Gesicht. Der Angreifer heulte vor Schmerz auf und kam ins Stolpern. Die Kugel seines Morgensterns prallte gegen die Wand, und die Waffe wurde ihm aus der Hand gerissen und hätte ihn um ein Haar am Kopf getroffen, als sie davonflog.

Bruder Tobias machte einen hastigen Schritt zur Seite, als der Bursche an ihm vorbeistolperte, hob seinen Krug und schlug ihn der maskierten Gestalt mit solcher Gewalt auf den Schädel, daß er zerbrach. Der Angreifer fiel mit weit vorgestreckten Armen aufs Gesicht, schlitterte noch ein kleines Stück weiter und blieb benommen liegen. Tobias ergriff Robins Arm und zerrte sie so schnell hinter sich her auf die Treppe zu, daß sie ins Stolpern geriet und beinahe gestürzt wäre.

»Schnell!« keuchte er. »Die Treppe hinunter! Lauf!« Robin fand mit einiger Mühe ihr Gleichgewicht wieder, hatte aber trotzdem Schwierigkeiten, mit Tobias Schritt zu halten. Der Mönch war alt genug, um ihr Großvater sein zu können, vermochte sich aber behender und schneller zu bewegen als sie.

Über ihnen erscholl plötzlich ein wütendes Gebrüll, das sich mit dem nunmehr fast ununterbrochen rollenden Donner vermischte und Robin schier das Blut in den Adern gerinnen ließ. Sie warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück und sah, wie der Angreifer die oberste Stufe heruntertaumelte und hastig nach dem Geländer griff, als er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Er brüllte ununterbrochen vor Wut und Schmerz; keine Worte, sondern nur ein unartikuliertes, keuchendes Geschrei, das ihm auch noch den Rest jeglicher Menschlichkeit nahm.

»Schneller!« keuchte Tobias. »Lauf! Warte nicht auf mich!« Noch ehe Robin wirklich begriff, was er überhaupt meinte, ließ Tobias ihr Handgelenk los, ergriff sie aber unmittelbar darauf am Ellbogen und schob sie so schwungvoll an sich vorbei die Treppe hinunter, daß sie schon wieder um ihr Gleichgewicht kämpfen mußte. Sie legte den Rest des Treppenabsatzes unfreiwillig zurück, indem sie immer zwei, manchmal auch drei Stufen auf einmal übersprang, und fand ihre Balance erst auf dem nächsten Absatz ungeschickt wieder. Sie hielt nicht an, sondern stürmte mit unvermindertem Tempo weiter, sah sich aber im Laufen um.

Tobias stürmte hinter ihr die Treppe herab, war aber schon ein gutes Stück zurückgefallen und entfernte sich immer weiter, obwohl sie wußte, daß er sie mit Leichtigkeit hätte einholen können.

Sie wußte auch genau, warum, und der Gedanke erfüllte sie mit einem Gefühl hilflosen Entsetzens. Sie wollte nicht, daß dieser sanftmütige alte Mann sich für sie opferte, aber alles ging so entsetzlich schnell. Die Dinge schienen sich auf furchtbare Weise verselbständigt zu haben, als wäre ihr freier Wille einfach ausgeschaltet und sie selbst nicht mehr als Teil eines Geschehens, dessen Verlauf und Ende längst festgelegt waren. Sie war nicht fähig, stehenzubleiben oder auch nur langsamer zu laufen. Keuchend erreichte sie den nächsten Absatz, griff nach dem Treppengeländer und sprintete die Stufen hinab. Hinter ihr schienen Tobias und der maskierte Verfolger einen bizarren Totentanz aufzuführen. Blitze zuckten in immer rascherer Folge und tauchten die Treppe in einen Wechsel aus grellem Licht und vollkommener Schwärze, so daß die beiden Männer zu verschwimmen und manchmal zwei, manchmal drei Stufen weiter unten aufzutauchen schienen, wie Dämonen, die aus ihrem Gefängnis im tiefsten Schlund der Hölle ausgebrochen waren.

Sie hatte fast die Hälfte des Weges nach unten zurückgelegt, als der Maskierte Tobias einholte. Er stieß ihn einfach zur Seite, als hätte er gar kein Interesse an ihm. Tobias prallte gegen das Treppengeländer, streckte aber trotzdem die Hand aus und krallte sich in den Mantel des Maskierten.

Der Mann riß sich los, kam ins Stolpern und verlor endgültig das Gleichgewicht, als Tobias sich auf ihn warf. Die beiden Männer stürzten aneinander geklammert die Treppe herunter.

»Lauf!« brüllte Tobias noch im Fall. »Versteck... dich!«

Ein weiterer Blitz zuckte auf, und Robin sah das rasche, silberne Schimmern von Stahl, dann hatte sie die nächste Treppe erreicht und jagte sie hinunter, so schnell sie nur konnte. Über ihr erscholl ein Schrei, dann polterten schwere Schritte. Robin jagte wie von Furien gehetzt weiter, erreichte die nächste Treppe und wieder die nächste. Endlich hatte sie das Erdgeschoß und somit den Ausgang erreicht. Vom Schwung ihrer eigenen Bewegung getragen, jagte sie hinaus in den peitschenden Regen. Kalter Schlamm spritzte unter ihren Füßen auf. Sie strauchelte, riß schützend die Hände vor das Gesicht und stolperte beinahe blind weiter.