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Es war vollkommen dunkel geworden. Das blau schimmernde Weiß der fast ununterbrochen zuckenden Blitze brach sich in den niederprasselnden Regenschleiern und verwandelte sie in dicht gewobene Vorhänge aus Silber, hinter denen alles verschwand, das weiter als drei oder vier Schritte entfernt war. Sie konnte keines der anderen Gebäude der Komturei sehen. Selbst der Turm, aus dem sie gerade gestürmt war, war zu einem Schemen verblaßt, der im fast regelmäßigen Auflodern der Blitze erschien und wieder verschwand.

Der Angreifer war verschwunden. Vermutlich befand er sich nur noch wenige Schritte hinter ihr, konnte sie aber im Toben der entfesselten Naturgewalten so wenig sehen wie sie ihn. Sie mußte in Bewegung bleiben. Laufen. Sich irgendwo verstecken. Bruder Tobias' Opfer durfte nicht umsonst gewesen sein.

Sie rannte jetzt nicht mehr mit verzweifelter Kraft weiter, sondern fiel in einen langsameren und - wie sie hoffte - kräftesparenden Trab. Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Ihr Herz hämmerte. Ihre Lungen brannten bei jedem Atemzug, und sie schmeckte schon wieder ihr eigenes, bitteres Blut. Ihre Glieder schienen sich in Blei verwandelt zu haben. Wenn sie vor Erschöpfung zusammenbrach, dann würde der Mann sie finden und zu Ende bringen, was er oben im Turm angefangen hatte.

Der Hof schien viel größer geworden zu sein, als sie ihn in Erinnerung hatte. Robin stolperte durch den eisigen Regen, sah sich wieder gehetzt um und betete, daß sie endlich auf eine Mauer stoßen würde, eine Tür, Menschen.

Statt dessen prallte sie jählings mit der Schulter gegen rauhen Stein, riß erschrocken die Arme in die Höhe und kippte nach vorne, während ihre Hände ins Leere griffen. Sie schlug schwer auf dem festgestampften, aber trockenen Boden auf, rollte keuchend auf die Seite und sah im flackernden Licht der Blitze, daß sie den Hof auf ganzer Länge überquert hatte. Fünf Meter über ihrem Kopf erhob sich das gemauerte Gewölbe des Torbogens.

Robin stemmte sich mühsam in die Höhe. Sie war so schwach, daß sie mit beiden Händen an der Wand Halt suchen mußte, um nicht sofort wieder zu stürzen. Trotzdem schob sie sich Schritt für Schritt weiter an der Wand entlang. Sie hatte Angst, das Bewußtsein zu verlieren, und ihrer allerersten Erleichterung, vermeintlich in Sicherheit zu sein, folgte eine rasche und um so größere Ernüchterung.

Sie war alles andere als in Sicherheit. Ganz im Gegenteil. Der Mörder konnte es sich nicht leisten, lange nach ihr zu suchen. Wenn er ihre Spur auf dem vom Regen aufgeweichten Hof verloren hatte, dann würde er die Komturei verlassen - und zweifellos durch genau dieses Tor. Sie hatte sich selbst in eine tödliche Falle hineinmanövriert.

Aber sie brauchte einfach eine Pause, und sei es nur eine einzige, kostbare Minute. Das jenseitige Ende des Torweges war noch fünf oder sechs Schritte entfernt, aber ihre Kraft reichte einfach nicht mehr, diese geringe Entfernung zurückzulegen.

Sie blieb stehen. Jeder Atemzug brannte wie Feuer in ihren Lungen, und der gesamte Torweg schien plötzlich nach links wegzukippen und sich dann jäh in die entgegengesetzte Richtung zu neigen. Robin fiel schwer auf die Knie.

Als der Schwindelanfall vorbei war, sah sie die Gestalt.

Im flackernden Licht der Blitze schien es, als wäre der Torweg durch einen silbernen Vorhang verschlossen, und die riesenhafte Gestalt ihres Verfolgers tauchte wie ein leibhaftiger Todesengel aus dem versilberten Wasserfall auf. Er stockte einen Moment, überrascht, sie zu sehen, dann fuhr er erschrocken zusammen und stürmte auf sie los.

»Robin! Bei Allah, was ...?«

Robin hob mühsam den Kopf. Der Mann beugte sich über sie, aber es war nicht ihr Verfolger. Es war Salim. Sein Gesicht glänzte vor Nässe, und in seinen Augen flackerte etwas, das zwischen Panik und Sorge schwankte. »Was ist denn nur geschehen? Du ... bei Allah, du blutest ja!«

Er wollte nach ihrem verletzten Arm greifen, aber Robin schüttelte müde den Kopf. »Nicht... schlimm«, krächzte sie. »Mörder. Bruder Tobias... tot.«

Ihre Stimme war kaum zu verstehen; ein heiseres, qualvolles Krächzen, und jedes Wort war eine pure Qual und schien ihre Kehle zu zerreißen.

Salims Augen weiteten sich. »Du kannst...« Er fuhr zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Was sagst du?«

»Mörder«, krächzte Robin noch einmal. »Im... Turm.« Sie wußte noch nicht einmal, ob Salim sie überhaupt verstand. Ihre Stimme hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der, an die sie sich erinnerte, und hörte sich in Salims Ohren wahrscheinlich eher wie ein Schrei an. Aber er begriff immerhin, daß etwas nicht stimmte. Sein Kopf flog in den Nacken, und seine rechte Hand senkte sich in einer blitzschnellen Bewegung zum Gürtel. Sie griff ins Leere, aber die Bewegung kam so schnell und selbstverständlich, daß selbst Robin in ihrem geschwächten Zustand begriff, daß er dort normalerweise eine Waffe trug.

Für die Dauer von zwei oder drei Herzschlägen starrte er konzentriert in den silbernen Vorhang aus Regen, dann stand er mit einem Ruck auf, beugte sich noch einmal vor und hob Robin, scheinbar ohne Anstrengung, auf die Arme. Sie versuchte schwach, sich zu wehren. Es war absurd, aber selbst jetzt war es ihr noch unangenehm, auf Hilfe angewiesen zu sein. Salim ignorierte ihre ohnehin nur symbolische Gegenwehr allerdings, drehte sich auf dem Absatz herum und trug sie zu einer schmalen Tür in der Mitte des Torbogens. Er stieß sie mit der Schulter auf, trat gebückt in den vollkommen dunklen Raum dahinter und lud Robin behutsam auf dem harten Steinboden ab.

»Du bleibst hier liegen«, sagte er eindringlich. »Ganz egal, was passiert oder was du hörst. Ich schlage Alarm und schicke jemanden, der dich abholt.«

Robin wollte ihn zurückhalten, aber Salim hatte sich bereits herumgedreht und warf die Tür hinter sich zu. Vollkommene Dunkelheit schlug über Robin zusammen; zuerst über ihrem Körper, aber nur einen kurzen Moment später auch über ihren Gedanken.

KAPITEL 16

»Hier, trink das.« Salim schob den linken Arm unter Robins Schultern und zog sie ein Stück weit aus den Kissen in die Höhe. Mit der anderen Hand setzte er einen Becher mit einer wasserklaren, scharf riechenden Flüssigkeit an ihre Lippen. Robin trank vorsichtig davon und konnte gerade noch einen Hustenanfall unterdrücken, denn sie schmeckte noch schärfer, als sie roch, und tat ihrem Hals im ersten Moment sehr weh. Fast sofort aber wurde der Schmerz zu einem Gefühl prickelnder Wärme, dessen Weg sie bis in ihren Leib hinab verfolgen konnte. Der Geschmack war fremd und überaus intensiv, aber nicht unangenehm. Sie hätte gerne noch einen weiteren Schluck davon gekostet, aber etwas warnte sie. Die Flüssigkeit war kein Wasser. Zuviel davon zu trinken, mochte gefährlich sein.

Salim grinste - wobei seine Augen allerdings ernst blieben und weiter voller Sorge auf sie herabblickten -, zog den Becher zurück und stellte ihn auf das kleine Tischchen neben ihrem Bett. Der Arm, den er unter ihren Nacken geschoben hatte, um sie zu stützen, ließ er, wo er war. »Trink lieber nicht zuviel davon«, sagte er lächelnd. »Es hilft, aber es ist auch nicht ohne - vor allem, wenn man es nicht gewohnt ist.« Er blinzelte ihr fast verschwörerisch zu. »Ein Zaubertrank aus Bruder Abbés privaten Vorräten.«

Robin stemmte die Ellbogen in die weichen Kissen und arbeitete sich mit einiger Mühe weiter in die Höhe - mühevoll nicht, weil sie so schwach gewesen wäre, sondern weil sie es nicht gewohnt war, in einem derart weichen Bett zu liegen. Sie hatte bisher nicht einmal gewußt, daß es so weiche und bequeme Betten überhaupt gab; so wenig, wie sie gewußt hatte, daß ein Zimmer wie dieses in der Komturei existierte. Vor einigen Tagen, als Salim sie in Abbés Officium gebracht hatte, da hatte sie geglaubt, die kargen Zellen, an denen sie vorbeikam, wären die Unterkünfte der Tempelritter. Das mochte stimmen oder auch nicht, dieser Raum jedenfalls war prunkvoll genug ausgestattet, um einem König zur Ehre zu gereichen.