Aber das spielte keine Rolle. Niemand konnte sich Geschichten wie diese ausdenken, ohne wenigstens etwas davon wirklich erlebt zu haben, und Robin begriff zumindest eines mit erschütternder Gewißheit: daß die Welt größer war, als sie bisher geglaubt hatte. Unendlich viel größer. Sie endete immer noch am Meer im Norden, dem Fluß und den Hügeln, aber sie wußte nun, daß sie dahinter weiterging und voller unbekannter, exotischer Länder war, voller Abenteuer und Geheimnisse, die es zu ergründen gab, aber auch voller schrecklicher Gefahren und großer Herausforderungen. Und mit jedem Wort, das sie hörte, jeder neuen Geschichte, die Jan erzählte - gleich ob ausgedacht oder wahr - wuchs in ihr der Entschluß, diese Welt eines Tages kennenzulernen. Sie wollte - sie mußte! - mit eigenen Augen sehen, wie es dort draußen zuging!
Und an jenem schicksalhaften Abend stellte sie Jan die Frage, die ihr schon seit ihrem zweiten oder dritten Treffen wie keine andere auf der Zunge brannte, die sie aber bisher nicht auszusprechen gewagt hatte.
»Was muß ich tun, um Ritter zu werden?«
Jan starrte sie an, als hätte sie ihn gefragt, warum die Sonne morgens aufging. Es dauerte eine geraume Weile, bis er seine Sprache wiederfand, und auch dann war seine Antwort nicht besonders geistreich: »Was... hast du gesagt?«
»Ich will Ritter werden«, sagte Robin noch einmal und mit großem Ernst. »Genau wie du.«
»Du weißt nicht, was du da redest«, sagte Jan. Er klang plötzlich fast unwirsch, fast als hätte sie etwas gesagt, worüber er sich ärgerte. Robin verstand das nicht.
»Oh doch«, beharrte sie. »Ich habe es mir genau überlegt. Ich will all diese fremden Länder und Menschen sehen, von denen du erzählt hast. Ich will ins Heilige Land! Ich will gegen die Sarazenen kämpfen und... und die Kirche sehen, in der unser Heiland zu Grabe getragen wurde.«
Jan sah sie lange und sehr ernst an, dann sagte er leise: »Du glaubst doch gar nicht an ihn.«
Robin war schockiert, nicht ob dieser ungeheuerlichen Unterstellung - die vielleicht gar keine war -, sondern weil sie einfach nicht verstand, woher er das wissen konnte! Tatsächlich war Robin kein besonders gläubiger Mensch. Sie versammelte sich sonntags zusammen mit allen anderen zum gemeinsamen Gebet, und selbstverständlich betete sie auch mit ihrer Mutter vor den Mahlzeiten und vor dem Schlafengehen. Aber es waren nur Worte, die sie sprach. Mit dem Herzen war sie niemals wirklich dabeigewesen. Sie hatte Mühe, sich mit einem Gott anzufreunden, der zuließ, daß ehrliche Menschen im Winter verhungerten und Neugeborene ertränkt wurden, nur weil sie das falsche Geschlecht hatten.
Aber wie um alles in der Welt konnte Jan das wissen?
Der junge Tempelritter sah sie noch einige Augenblicke auf die gleiche, unangenehm durchdringende Weise an, aber er war dann doch diplomatisch genug, nicht auf einer Antwort zu bestehen. Er sagte nur noch einmaclass="underline" »Du weißt ja gar nicht, was du da sagst.«
»Aber du selbst hast mir doch...«
»Ich habe dir von meinen Abenteuern erzählt«, fiel ihr Jan ins Wort. »Von den Reisen, die ich zusammen mit meinem Herrn unternommen habe, und all den fremden Menschen und Ländern, die wir gesehen haben. Vielleicht war das ein Fehler.«
»Wieso?« fragte Robin. »Ist es denn nicht wahr?«
»Doch«, antwortete Jan. Dann zuckte er mit den Schultern, rettete sich in ein verlegenes Lächeln und fügte hinzu: »Mehr oder weniger.«
Robin schwieg. Sie wollte Jan nicht unnötig in Verlegenheit bringen. Außerdem hatte sie das Gefühl, daß Jan mehr erzählen würde, wenn sie ihn einfach reden ließ. Sie hatte mit ihrer Frage irgend etwas in ihm angerührt.
Jan riß einen Grashalm aus, steckte ihn zwischen die Lippen und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die große Buche, in deren Schutz sie sich niedergelassen hatten, vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte von der Kapelle entfernt und damit weit genug, um drinnen nicht gehört zu werden, aber zugleich auch nah genug, daß Jan seiner Aufgabe gerecht wurde.
»Du machst dir ein falsches Bild vom Leben eines Ritters, Robin«, sagte er leise. »Die Erziehung ist hart, und sie dauert Jahre. Ich war acht, als ich zu Bruder Abbé kam, und es wird wahrscheinlich noch einmal so lange dauern, bis meine Ausbildung wirklich abgeschlossen ist... wenn überhaupt.«
»Das würde mich nicht schrecken«, behauptete Robin.
»Du willst kämpfen lernen«, sagte Jan. »Du willst lernen, wie man mit dem Schwert umgeht, dem Morgenstern und der Lanze. Du würdest dabei verletzt werden.«
»Ich habe mich schon oft verletzt«, sagte Robin leichthin.
»Du wirst dir Schnittwunden einhandeln, Prellungen und Knochenbrüche«, fuhr Jan unbeirrt fort. »Du wirst Schmerzen und Entbehrungen erleiden, die du dir jetzt nicht einmal vorstellen kannst! Und das ist noch der angenehmste Teil der Erziehung.«
»Aber du...«
»Du mußt deine Familie verlassen«, fuhr Jan fort. »Du liebst doch deine Mutter?«
»Natürlich«, antwortete Robin impulsiv.
»Du würdest sie nie wiedersehen«, sagte Jan ernst. »Und auch alle anderen nicht, die du kennst. Du würdest dein ganzes Leben hinter dir lassen, um es gegen endlose Jahre harter Arbeit und Entbehrungen einzutauschen. Du müßtest die niedrigsten Arbeiten verrichten, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Würde es dir Freude bereiten, drei Jahre lang Pferdeställe auszumisten, bevor du das erste Mal auch nur ein Schwert anrühren darfst?« Er schnaubte wütend. »Und in der Zeit dazwischen, wenn du gerade keinen Pferdemist schaufelst oder Feuerholz hackst, bis dir die Hände bluten, endlose Exerzitien und Gebete.« Er sah Robin streng ins Gesicht: »Betet ihr vor dem Essen, deine Mutter und du?«
»Natürlich«, antwortete Robin.
»Sag mir ein Vaterunser auf«, verlangte Jan. Als sie nicht sofort gehorchte, fügte er noch hinzu: »Auf französisch.«
»Das kann ich nicht«, antwortete Robin.
»Du müßtest es aber«, beharrte Jan grimmig. »Und zwar nicht nur eines, sondern dreißig, vor jeder Mahlzeit. Vor Sonnenaufgang mußt du eine Stunde beten und eine weitere nach Sonnenuntergang. Bei der kleinsten Verfehlung wirst du hart bestraft - manchmal nur für ein Lachen oder einen falschen Blick. Für einen unkeuschen Gedanken mußt du dich stundenlang kasteien, und wenn dein Herr es von dir verlangt, dann stehst du einen halben Tag mit nackten Füßen im Schnee und betest zweihundert Ave-Maria.«
»Warum?«
»Allein für diese Frage würdest du zehn Klafter Holz hacken, mit einem stumpfen Beil«, antwortete Jan. Er schüttelte heftig den Kopf, stockte plötzlich und starrte einen Moment aus mißtrauisch zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit hinter Robin - als hätte er etwas gehört, was seine Aufmerksamkeit erweckte. Seine Hand tastete nach dem Schwert, das neben ihm im Gras lag, zog sich aber zurück, bevor sie die Waffe erreichte, und er entspannte sich und ließ den Hinterkopf wieder gegen den Baum sinken, als habe er nur ein Tier gehört.
»Aber du... du hast doch dieses Leben auch gewählt!« sagte Robin verständnislos. Die Bitterkeit, die plötzlich in Jans Stimme war, erschreckte sie zutiefst. Sie war verwirrt. Bisher hatte sie geglaubt, daß der junge Ritter nicht nur stolz auf das war, was er war, sondern sein Leben als Tempelritter auch über alles liebte. War es möglich, daß er all diese Geschichten und Abenteuer nicht nur erfunden hatte, um sie zu beeindrucken, sondern auch und vielleicht sogar vor allem, um sich selbst etwas vorzumachen, sich ein Leben einzureden, das es in Wahrheit gar nicht gab? Und wenn ja, warum? Weil er die Wirklichkeit nicht ertragen hätte?