»Ihr wollt ihn tatsächlich hereinholen?« fragte Salim in diesem Moment. Die Frage galt Abbé, der sie nur mit einem zornigen Blick beantwortete, aber der Tuareg fuhr fort: »Es könnte sich als schwerer Fehler erweisen, das Tor zu öffnen. Eine bessere Gelegenheit, den Hof zu stürmen, werden sie kaum finden.«
»Schweig!« donnerte Abbé. »Gunthar von Elmstatt ist ein Ehrenmann!«
»Er vielleicht«, murrte Salim, wurde aber von einem noch zornigeren Blick Abbés schließlich ganz zum Verstummen gebracht.
Betretenes Schweigen kehrte ein, und plötzlich lag eine Auseinandersetzung zwischen Salim und Abbé in der Luft, die vielleicht schon lange fällig war, nun aber zum ungünstigsten aller nur denkbaren Momente auszubrechen drohte. Und wieder war es der Tempelritter, der sich am Ende herumdrehte und die Konfrontation abbrach, nicht Salim. Robin hatte tausend Fragen im Kopf, die sie stellen wollte, sobald sie wieder richtig sprechen konnte, aber die nach Abbés und Salims wirklichem Verhältnis zueinander stand nun ganz oben. Vielleicht hatte Bruder Abbé ja mehr als nur ein Geheimnis, dachte sie. Und vielleicht war sie ja nicht die einzige, die davon wußte.
Einige lange Minuten vergingen, dann hörten sie ein dumpfes Poltern, das durch den Boden unter ihren Füßen zu dringen schien. Abbé beugte sich vor und sah gebannt aus dem Fenster, und auch Robin nahm ihren Beobachtungsplatz hinter dem Fensterladen wieder ein.
Karl war noch einen oder zwei Meter weiter gekrochen, dann entkräftet wieder zu Boden gesunken. Das Rumpeln und Poltern, das sie hörte, war das Geräusch des Riegels, der zurückgeschoben wurde, um das gerade erst mühsam verschlossene Tor wieder zu öffnen. Zwei Männer erschienen in ihrem Blickfeld, die sich rasch dem Verwundeten näherten und ihn hochhoben.
Es blieb bei dem Versuch. Ein ganzer Trupp von Gunthars Reitern setzte sich jäh in Bewegung, und ein ganzer Hagel von Pfeilen senkte sich auf die drei Männer vor dem Tor nieder. Die meisten waren schlecht gezielt und kamen ihnen nicht einmal nahe, aber zumindest zwei der heimtückischen Geschosse trafen: Ein Pfeil durchbohrte Karls Hals und tötete ihn auf der Stelle, der zweite traf einen der beiden Männer, die ihm zur Hilfe geeilt waren, in den Arm und schmetterte ihn zu Boden. Der Mann schrie gellend auf, taumelte auf die Füße und verschwand aus Robins Blickfeld, als er sich dem Tor näherte.
Salim fluchte, riß seinen Bogen hoch und ließ den ersten Pfeil fliegen, beinahe ohne zu zielen. Einer der heranpreschenden Ritter warf die Arme hoch und kippte aus dem Sattel, und Salim ließ seinen zweiten Pfeil fliegen, noch bevor der Getroffenen den Boden berührte.
»Zurück!« schrie Abbé. »Weg von den Fenstern!«
Er selbst kam seiner eigenen Warnung beinahe zu spät nach. Er duckte sich und entging einem Pfeil, der durch das Fenster hereinzischte, um Haaresbreite, aber ein zweites Geschoß, das fast im gleichen Moment herangeflogen kam, traf seine Schulter. Der Pfeil zerbrach, ohne sein Kettenhemd zu durchdringen, aber die schiere Wucht des Aufpralls warf den Tempelritter zu Boden. Eine Serie dumpfer Schläge traf die Wände, und zwei oder drei Pfeile bohrten sich in die vorgelegten Läden. Dann waren die Reiter heran, und die Bogenschützen stellten ihr Feuer ein, um nicht ihre eigenen Kameraden zu gefährden.
»Die Läden!« befahl Salim. »Schnell!«
Noch während sich Abbé aufsetzte und benommen nach seiner Schulter tastete, ließen die Männer ihre Waffen sinken und begannen in aller Hast schwere, zusätzliche Läden von innen an den Fenstern zu befestigen. Sie gingen dabei vorsichtig zu Werke, um nicht im letzten Moment doch noch von einem Pfeil getroffen zu werden, trotzdem aber mit einem Geschick, welches Robin verriet, daß sie das nicht zum ersten Mal taten.
Unter ihnen begann das Tor unter einer Serie dumpfer, heftiger Schläge zu erbeben, aber nur für einen Moment, dann erscholl ein triumphierendes Gebrüll, und das unverkennbare Ächzen schwerer Scharniere. Es war den Verteidigern nicht gelungen, den Riegel wieder vorzulegen. Die Angreifer hatten das Tor aufgestoßen, und unter ihnen ertönte das harte Trommeln zahlreicher Pferdehufe, die durch das Torgewölbe galoppierten.
Abbé stand endlich wieder auf den Beinen, massierte mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Schulter und eilte dann auf die andere Seite des Dachbodens. »Jetzt!« schrie er.
Robin konnte nicht sagen, wem der Befehl galt, aber nur einen Moment später erscholl ein schweres, eisernes Rumpeln, und dann schien das gesamte Gebäude unter ihren Füßen zu erzittern. Ein Chor überraschter Schreie wurde laut, und irgend etwas Schweres bohrte sich tief unter ihnen mit einem gewaltigen Knirschen in die Erde.
Robin war mit einem Sprung neben Abbé und Salim am Fenster. Sie erblickte ein knappes Dutzend Reiter, das bis in die Mitte des Hofes gesprengt war und seine Tiere nun abrupt zum Stehen brachte. Aus den umliegenden Gebäuden stürmte eine mindestens doppelt so große Anzahl von Abbés Männern heran. Sie waren ausnahmslos mit langen, gefährlich aussehenden Spießen bewaffnet, und nicht einer von Abbés Brüdern war unter ihnen.
Die Reiter hatten keine Chance. Sie wehrten sich nach Kräften, aber die Angreifer waren einfach in der Überzahl und stießen sie mit ihren langen Speeren einen nach dem anderen aus dem Sattel, ohne deren Waffen ihrerseits auch nur nahe zu kommen. Es ging unglaublich schnell, und vielleicht war es bei aller Grausamkeit trotzdem das, was Robin am meisten schockierte. Die Reiter stürzten nacheinander aus den Sätteln, ohne daß sie im Grunde auch nur die Gelegenheit gehabt hätten, sich zu verteidigen, und nach weniger als einer Minute war ein Dutzend Menschenleben ausgelöscht. Es erschienen keine weiteren Reiter auf dem Hof, obwohl das Tor weit offen stand.
Salim eilte wieder zur anderen Seite und sah durch einen Spalt in den Läden hinaus. »Sie haben sich geteilt«, sagte er.. »Jedenfalls kann ich nur noch die Hälfte von ihnen sehen.«
»Das war klar«, knurrte Abbé. »Also gut - alles raus hier, bevor sie auf die Idee kommen, Feuer zu legen oder durch die Decke zu brechen. Salim, du bringst Robin in den Turm, und keine Widerrede diesmal.«
Salim sah nicht so aus, als wollte er widersprechen, und Robin wäre nicht einmal dazu gekommen, wenn sie es gekonnt hätte. Denn auf einen Wink Salims hin ergriffen zwei Männer sie bei den Armen und schleiften sie kurzerhand auf die Treppe zu. Wären die beiden Knechte nicht so eifrig gewesen, Salims Befehl nachzukommen, dann wäre sie freiwillig zwischen ihnen hergelaufen, so schnell sie nur konnte.
Die Furcht, die sie die ganze Zeit über vermißt hatte, war nun da, schlagartig und zehnmal schlimmer, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Bisher war alles - selbst der beeindruckende Aufmarsch von Gunthars Armee - kaum mehr als ein spannendes Abenteuer für sie gewesen, eine jener aufregender Geschichten, wie Jan sie zu erzählen gewußt hatte. Doch das grauenhafte Gemetzel, dessen Zeuge sie soeben geworden war, hatte alles geändert. Die Szenen, die sie im Dorf mit angesehen hatte, waren ungleich schlimmer gewesen. Was ihr selbst angetan worden war, war schlimmer gewesen, und doch war es gerade diese beiläufige, fast gnädige Art, Menschenleben auszulöschen, die aus dem Spiel plötzlich und unwiderruflich gräßlichen Ernst gemacht hatte. Sie wollte nicht wissen, was weiter geschah. Sie wollte nur weg und genau das tun, wofür sie sich vor einer Minute noch selbst in Gedanken verachtet hatte: sich wie ein verängstigtes Kind in ihrem Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen, bis alles vorbei war, so oder so.
Doch so gnädig war das Schicksal nicht mit ihr.
Die beiden Männer zerrten sie die Treppe hinunter und auf den Hof hinaus, und Robin keuchte vor Entsetzen, als sie sah, daß er sich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Herrenlose Pferde rannten in wilder Panik umher. Diejenigen von Gunthars Männern, die noch am Leben waren - drei oder vier von fast einem Dutzend, wie Robin entsetzt erkannte - wurden gerade gefesselt und roh davongezerrt, und überall waren schreiende Männer, hastige Bewegung, Blut. Nur wenige Schritte neben ihr brach einer von Abbés Soldaten schreiend zusammen, von einem Pfeil getroffen, der scheinbar aus dem Nichts zu kommen schien, und Salim sprang mit einem Wutschrei neben sie und riß seinen Schild dann in die Höhe, um ein weiteres, womöglich besser gezieltes Geschoß abzuwehren.